Das katholische Kinderheim Rathausen bei Luzern: Hier erlebten Kinder aus armen Familien, Halbwaisen- und Waisenkinder bis in die 1970er-Jahre eine schreckliche Zeit. Erziehung bedeutete hier Stockschläge, simuliertes Ertränken, Einsperren oder Blossstellen durch die Heimleitung und Erzieherinnen – damals Ingebohler Nonnen. Ein besonders sadistischer Direktor war der Priester Gottfried Leisibach. Von ihm stammt der Satz: «In der Bestrafung der Kinder berufe ich mich auf göttliches Recht».
Ein Film bricht das Schweigen
Im SRF-Dokumentarfilm «Das Kinderzuchthaus» von Beat Bieri äusserten sich Betroffene erstmals öffentlich darüber, was hinter den Mauern von Rathausen, damals einem der grössten Kinderheime der Schweiz, geschah. Es sind haarsträubende Geschichten von Strafaktionen, Misshandlungen und pädophilen Übergriffen. Von Menschen, die sich endlich getrauten, über ihre Erfahrungen «im Heim» zu sprechen und dabei mit Worten und Gefühlen rangen.
Der Film wirkte wie ein Dammbruch. Nach der Erstausstrahlung 2009 meldeten sich zahlreiche weitere Opfer. Es entstanden Organisationen, die Zeugenaussagen sammelten, es kam zu Anklagen und Forderungen in der Öffentlichkeit. Der Kanton Luzern reagierte: 2012 erschien ein umfassender Bericht über die Kinderheime im Kanton Luzern von 1930–1970.
Grosse Zurückhaltung
Nun gerieten weitere Heime unter Verdacht, Kinder misshandelt zu haben. Parallel dazu nahm die Debatte um die Verdingkinder an Fahrt auf. Im April 2013 entschuldigte sich Justizministerin Simonetta Sommaruga im Namen des Bundesrates bei den Opfern und berief einen runden Tisch mit Vertretern aus Bund und Kantonen sowie mit Betroffenenvertretern. Ihr Auftrag: die Aufarbeitung der Geschichte rund um die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – bis hin zur Frage der finanziellen Entschädigungen. An diesen Tisch gehören auch die Landeskirchen. Denn wie Rathausen standen viele Heime unter kirchlicher Führung.
Auf Seiten der Betroffenen sitzt der Historiker Thomas Huonker von der Kontaktstelle Kinderheime in der Schweiz am runden Tisch. Er registriert eine grosse Zurückhaltung, wenn es um finanzielle Entschädigung geht. Der Staat hätte die kirchlichen Heime bevorzugt, weil es die billigsten gewesen seien. Nun brauche es dringend eine Aufarbeitung, bei der Staat und Kirche zu ihrer Verantwortung stünden. Die Geschädigten hätten Anspruch auf Unterstützung, auch finanzieller Art.
Schweigende Kirchenvertreter
Sendungen zum Thema
- Ein düsteres Kapitel Sozialgeschichte (Schweiz aktuell, 12.01.04)
- Das Schicksal der Verdingkinder (10vor10, 26.10.2011)
- Misshandelte Heimkinder (10vor10, 26.09.2012)
- Entschädigung für Verdingkinder (Tagesschau, 12.05.13)
- Runder Tisch für ehemalige Verdingkinder (Echo der Zeit,25.10.13)
- Verdingkinder und Vergangenheitsbewältigung (Tagesschau, 4.12.13)
- Historikerin Loretta Seglias im Gespräch (Tagesgespräch,18.12.13)
Huonker ist enttäuscht vom bisherigen Beitrag der Kirchen zu einer raschen und nachhaltigen Lösung: «Ich erlebe die Vertreter der Kirche am runden Tisch meist schweigend.» «Man kann sagen schweigend. Man kann aber auch sagen zuhörend», entgegnet Wolfgang Bürgstein, der die Schweizer Bischofskonferenz SBK am runden Tisch vertritt. Er ist überzeugt: «Die Kirchen sind bereit für eine lückenlose Aufarbeitung im Interesse der Betroffenen, aber auch der Gesellschaft.»
Dazu gehört auch die Entschädigungsfrage. Doch er betont die gesellschaftliche Verantwortung für das Abschieben von Kindern aus mittellosen Familien in die Heime: diese Praxis sei gesellschaftlich gewollt und von staatlichen Behörden in Auftrag gegeben worden – ohne dass die Heime dafür genug Mittel bekamen. Für die Finanzierung von Entschädigungszahlungen hat er eine Lösung parat, der er aber politisch wenig Chancen einräumt: eine kurzfristige, geringe Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Gemeinsam weggeschaut
Simon Hofstetter vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund SEK vertritt die reformierten Kirchen. Auch er unterstreicht im Gespräch, dass die Verantwortlichkeiten sehr schwer auszumachen seien. Es gehe in reformierten Gebieten weniger um Heime als um die Platzierung von Kindern aus sogenannt «prekären» Verhältnissen als Verdingkinder. Im Kanton Bern etwa, wo er aufgewachsen ist, seien fürsorgerische Zwangsmassnahmen oft in einem Geflecht von Verwandten, Behörden und dem Gemeindepfarrer eingeleitet worden.
Die Verantwortung zu klären sei im Nachhinein fast unmöglich: «Versuchen Sie mal, in so einem Prozess auszumachen, wer wann was entschieden hat!» Simon Hofstetter, selber Nachkomme von Verdingeltern, mag folgerichtig zwar von Opfern, nicht aber von personifizierten Tätern sprechen. Er verweist auf die gesamtgesellschaftliche Haltung des «gemeinsamen Wegschauens.» Seine Kirche habe sich schuldig gemacht, indem sie «zuwenig hingeschaut» habe.
Volksinitiative in Vorbereitung
Am zweiten runden Tisch im Oktober 2013 wurde in der heiklen Frage der Widergutmachung beschlossen, einen Härte- und Solidaritätsfonds zu prüfen. Die Sache eilt, denn viele Betroffene sind schon älter. Eine Volksinitiative, welche die Entscheidungsträger zu einer konsequenten und raschen Aufarbeitung und einer Entschädigung der Opfer verpflichten will, ist in Planung.