«Die Studenten fielen neben mir zu Boden», erinnert sich Wu’er Kaixi. Der Kugelhagel habe sich tief in sein Gedächtnis gebohrt. Den Mut der Demonstranten und jener Pekinger Bürger, die versuchten, die Studenten zu beschützen, werde er nie vergessen. 21 Jahre alt war Wu’er Kaixi damals. Einer der Anführer der Studentenproteste auf dem Tiananmen-Platz.
Wu’er Kaixi bereut heute nichts. Schliesslich habe er damals nicht gewusst, dass die Regierung die Proteste vor 25 Jahren so blutig niederschlagen würde. Seinen bekanntesten Auftritt hatte Wu’er Kaixi, als er noch immer geschwächt war von einem Hungerstreik. Er unterbrach im chinesischen Fernsehen den damaligen Premierminister Li Peng und las ihm die Leviten.
Mit Panzern gegen den Aufstand
Dem Treffen mit dem chinesischen Premier gingen wochenlange Proteste auf dem Tiananmen-Platz mitten in Peking voraus. In der Nacht auf den 4. Juni liess die Regierung die Proteste schliesslich von der Armee gewaltsam niederschlagen. Wie viele Menschen dabei getötet wurden, ist bis heute nicht bekannt. Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu mehreren tausend Toten aus.
Wu’er Kaixi selbst konnte rechtzeitig fliehen: Über Hongkong gelangte er, die Nummer zwei auf der Fahndungsliste der chinesischen Behörden, ins Ausland. Er studierte in Harvard und lebt heute in Taiwan im Exil. Die Hoffnung auf Demokratie hat der ehemalige Studentenführer noch immer nicht aufgegeben: «Während wir mit Transparenten auf der Strasse demonstrierten, fordern heute etwa Internet-User die Meinungsfreiheit», sagt Wu’er Kaixi.
«Tiananmen ist nicht vorbei», sagt auch Wang Dan, die damalige Nummer eins auf der Fahndungsliste. Indem die Regierung die Erinnerungen weiterhin unterdrücke, zeige sie, wie nervös sie sei. Wang Dan hatte weniger Glück als Wu’er Kaixi. Er wurde verhaftet und sass zweimal im Gefängnis, bevor er Ende der 90er-Jahre China verlassen konnte. Heute lebt der Dissident in den USA und in Taiwan.
Eltern dürfen China nicht verlassen
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«Obwohl wir damals Demokratie forderten», sagt Wu’er Kaixi, «haben wir sehr wenig darüber gewusst.» Im Unterricht lernten sie den Begriff «Demokratie» zwar kennen. Die chinesische Propaganda habe darunter aber eine kommunistische Volksdiktatur verstanden – eine widersprüchliche, ja lächerliche Bezeichnung.
Er habe Glück gehabt, dass seine Flucht gelungen sei, sagt Wu’er Kaixi. Inzwischen würde er aber gerne in sein Heimatland zurückkehren. Er vermisst seine Eltern, die das Land nicht verlassen dürfen. Doch Chinas Regierung lässt ihn nicht einreisen.
«Ich würde mich sogar verhaften lassen»
Wu’er Kaixi weiss, dass er ausserhalb Chinas nicht mehr viel bewirken kann. Dissidenten wie er haben mit ihrer Ausreise gleichzeitig das Schlachtfeld verlassen. «Wir spielen keine grosse Rolle mehr auf der chinesischen Bühne», sagt er. Auch deshalb würde der heute 46-Jährige am liebsten zurück in seine Heimat gehen.
In den vergangenen Jahren versuchte Wu’er mehrere Male nach China zu reisen – erfolglos. Die chinesischen Botschaften im Ausland zeigten bisher kein Interesse, die Einreise über Hongkong wurde ihm ebenfalls verwehrt: «Dabei würde ich mich sogar verhaften lassen.» Er sei noch immer bereit, in einen Dialog mit der chinesischen Regierung zu treten, sagt Wu’er Kaixi, «wenn es sein muss, auch in einem chinesischen Gerichtssaal.»