Sidi Bouzid, im Januar 2016. Der Reporter trifft eine Gruppe junger Menschen im Jugendhaus der tunesischen Provinzstadt. Hier hat die «Arabellion», die «arabische Revolution», ihren Anfang genommen. Hier hat sich der Strassenhändler Mohamed Bouazizi aus Verzweiflung über seine Lebensumstände am 17. Dezember 2010 mit Benzin übergossen und das Leben genommen.
Heute, gut fünf Jahre später, ist Mohamed Bouazizi kein Held mehr. Viele mögen das Wort Revolution schon gar nicht mehr hören. Denn die Lebensumstände haben sich seither nicht zum Positiven verändert. Ganz im Gegenteil. Die Arbeitslosigkeit ist noch immer erschreckend hoch, und die hohen Erwartungen haben sich in Luft aufgelöst.
Enttäuschung ist mit Händen zu greifen
«Diese Revolution hat uns nichts gebracht!», sagt Imed, ein 20-jähriger Student. Andere äussern sich vorsichtiger, weisen darauf hin, dass solche gesellschaftlichen Umwälzungen viel Zeit benötigen, dass man geduldig sein, ja, dass man weiterkämpfen sollte. Doch insgesamt ist die Stimmung in Sidi Bouzid schlecht.
Auf politischer Ebene hat Tunesien in den vergangenen Jahren einiges erreicht. Vor allem ist es in der nachrevolutionären Phase nicht zu Chaos und offener Gewalt wie etwa in Libyen gekommen. Die Bevölkerung konnte in freien Wahlen ihre Abgeordneten bestimmen und eine neue Verfassung gutheissen.
Beiträge zum Thema
- «Es wird einen zweiten Anlauf geben» (SRF News Aktuell, 26.1.16)
- Wenn die Euphorie vorbei ist (Reflexe, 8.4.14)
- Im Ursprungsland des arabischen Frühlings (Kontext, 12.12.13)
- 2 Jahre arabischer Frühling in Tunesien (SRF 4 Aktuell, 17.12.12)
- Die Enttäuschung der Frauen (SRF 4 News International, 8.12.12)
- «Der arabische Frühling ist Ausdruck von Not!» (Focus, 20.2.12)
- Teuer bezahlte neue Freiheit (SRF 4 News International, 14.1.12)
- Arabische Künstler als Impulsgeber des Wandels (Reflexe, 5.5.11)
Gescheiterte Revolution?
Dennoch halten manche Beobachter die tunesische Revolution für gescheitert, misst man sie an den Ansprüchen der jungen Aufständischen. Diese hatten Würde, Freiheit und Arbeit gefordert. Andere wollen nicht ganz so weit gehen und plädieren dafür, genau hinzuschauen.
Zu ihnen gehört Walid Maaouia. Der Ökonom leitete während Jahren eine Bank und war Kabinettschef des Präsidenten der Partei für Fortschritt und Demokratie. Heute arbeitet Maaouia als Konsulent, unter anderem auch für das Goethe-Institut in Tunis.
Auch er räumt ein, dass die Jugendlichen, welche die Aufstände angestossen und ihr Leben riskiert haben, zu den Verlierern gehören. Heute wird Tunesien von einem 90-jährigen Politiker regiert, der noch unter Bourguiba Karriere gemacht hatte, und die islamistische Partei Ennahda ist die mittlerweile stärkste Kraft im Land. Die revolutionäre Begeisterung ist weitgehend verpufft. Viele der jungen Aktivisten haben sich enttäuscht zurückgezogen.
Kein politischer Faktor geworden
Weshalb ist es den jungen Aufständischen in Tunesien nicht gelungen, zu einem politischen Faktor zu werden? Weshalb haben sie keine eigene Partei gegründet, welche klar die Interessen der unter 30-Jährigen vertritt? Er sehe zwei Erklärungsmöglichkeiten für dieses Phänomen, sagt Maaouia.
Zum einen habe es sich um eine sehr individualistische Bewegung gehandelt. Zum andern hätten die Revolutionsaktivisten die politische Arbeit an der Basis stark vernachlässigt. Er habe dies in seinem Quartier beobachten können, erklärt Maaouia: Nach dem Sturz des Ben Ali-Regimes hätten sich die jungen Aufständischen einfach zurückgezogen.
Noch ist es zu früh für eine endgültige Bilanz
Dahinter sieht der versierte Beobachter einen tiefen Graben zwischen der politischen Klasse in Tunesien und der jungen Generation im Land. «Diese erkennt sich in keiner Art und Weise in den Diskursen der heutigen Parteien und deren Leader», sagt Maaouia. Viele jungen Tunesier seien vielmehr auf der Suche nach einem anderen «Diskurs» und einem anderen gesellschaftlichen Projekt.
Maaouia sieht die Lage in Tunesien allerdings nicht nur negativ. Er stellt fest, dass sich die meisten der unter 30-Jährigen zwar von der Politik abgewendet haben, sich aber stark in kulturellen Projekten engagieren. Längerfristig werde dies Folgen haben. Die Politiker würden gezwungen, endlich auf die Anliegen der Generation einzugehen, die das kurze Aufblühen des «Arabischen Frühlings» überhaupt ermöglicht haben.