In den 1990er-Jahren «lebten» Pokémons noch im Gameboy. Heute erscheinen die bunten Monster auf dem Smartphone-Bildschirm – und in unseren Strassen, Parks oder Einkaufzentren.
«Bei ‹Pokémon Go› verschmelzen Realität und Virtualität auf eine Weise, die im Handy schon angelegt ist», sagt Wissenschafts- und Digitaljournalist Roland Fischer. «Man kann auf diesem Handy-Bildschirm Websiten aufrufen, man kann durch dieses Fenster aber auch auf die reale Welt schauen.»
Ein echtes Abbild der Realität gibt es nicht
Die Verschmelzung geschieht zum Beispiel bereits, wenn man auf dem Handy fotografiert, filmt oder sich von einer Software durch die Stadt lotsen lässt. Wir sind es längst gewöhnt, dass der Übergang zwischen der Wirklichkeit und der Online-Welt fliessend ist. Das Handy zeigt mehr als ein direktes Abbild der Realität. Es ergänzt die Realität mit Filtern, Motiven und Kommentaren.
Die jüngere Generation begegne diesen Versionen der Realität schon im Alltag spielerisch, sagt Roland Fischer. «Diese Generation ist sich gewöhnt, Bilder zu schiessen von der Welt und diese sofort zu verändern, anzupassen, zu Geschichten zu Formen, wie es bei Snapchat ganz normal ist. Mit dem Begriff ‹echtes Abbild der Welt› hätte diese Generation ein Problem.»
Hinaus in die Welt!
Bei Augmented Reality erweitert das Digitale die Realität. Spiele, die sich dem bedienen, waren bisher nur eine Nische. «Pokémon Go» hingegen ist ein Massenphänomen.
Das Spiel schickt seine Spielerinnen und Spieler per GPS hinaus in die reale Welt. Statt vor einer Konsole im Wohnzimmer trifft man die Spieler auf der Strasse, wenn sie zu Dutzenden durch die Stadt laufen, sich an bestimmten Orten zu Teams formieren, ihre Monster gegeneinander antreten lassen.
Der Algorithmus lenkt die Spieler
Für den Medienethiker Tobias Matzner von der Uni Tübingen ist diese Wechselwirkung ein neues Level: «Hier findet Interaktion im realen Leben statt, die aber durch eine digitale Struktur angeleitet wird. Die wird von einer Firma vorgegeben.»
Ein Algorithmus entscheidet, wo Pokemons auf dem Stadtplan verteilt sind. Er lenkt die Spieler und Spielerinnen an bestimme Orte, zu so genannten Pokestops oder Arenen, wo die Monster gegeneinander antreten. Neu am Spiel ist also, dass diese virtuellen Orte den öffentlichen Raum mitgestalten.
«Hier bekommen Orte, die in unserer bestehenden Welt eine Bedeutung haben, plötzlich eine Bedeutung im Spiel, die durchaus kollidieren kann», erläutert Matzner. Die Bedeutungen kollidieren zum Beispiel, wenn Spielerinnen und Spieler ihre Monster auf Friedhöfen oder Privatgrundstücken jagen.
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Von der virtuellen zur kommerziellen Ebene
Matzner sieht in der Steuerung der Bewegung von Menschen im öffentlichen Raum den Beginn einer neuen Entwicklung: «Wenn man das Ganze weiterdenkt, kann man sich vorstellen, dass zum Beispiel Restaurants und Kinos dafür bezahlen, damit Anbieter solcher Spiele die Nutzer gezielt an diese Orte locken.»
Niantic habe bestätigt, dass es «gesponsorte Orte» als Teil des Geschäftsmodels geben soll, berichtet die Website «engadget.com» .
So eine kommerzielle Nutzung kündigt sich also als weitere Ebene an, neben der realen und der virtuellen. Heute geht das alles gleichzeitig: erweiterte Realität und erweiterte Einnahmequellen.