Corona und die Konsequenzen: Es war schon leichter für die Generationen, sich näherzukommen. Aber die Abstandsregeln haben auch bei diesem Gespräch ihr Gutes: Niemand wird nass, wenn Ruth Schweikert ihren Wasserbecher umstösst, was der Schriftstellerin zweimal gelingt.
Auch dank dieses Kunststücks herrscht gleich gelöste Stimmung an einem unrunden Tisch, um den neben Ruth Schweikert der Slam-Poet Jusef Selman, Jungunternehmerin Yaël Meier und der Altersforscher François Höpflinger Platz genommen haben.
Im Zentrum steht die Frage: Wie ist das Klima zwischen Jung und Alt – angesichts von Klimakrise, Viren und anderen Wirren? Ein Gespräch unter acht Augen und drei Generationen.
SRF: Herr Höpflinger, wann haben Sie zuletzt «Ach, diese Jungen!» geseufzt?
François Höpflinger: Das ist lange her. Ich habe ein gutes Verhältnis mit den Enkelkindern und den eigenen Kindern. Im Moment lerne ich mehr von den Enkeln als umgekehrt.
Was denn?
Höpflinger: Ich brachte Skype auf dem PC nicht zum Laufen. Mein 12-jähriger Enkel hat mir gezeigt, wie’s geht.
Wann verdrehen die Jungen wegen der Alten die Augen?
Yaël Meier: Das kommt vor. Wenn die Eltern etwas nicht verstehen, was für mich logisch ist.
Jusef Selman: Mir fehlt oft der kritische Blick. Wenn man etwas jahrelang gleich gemacht hat, vergisst man, sich und sein Handeln zu hinterfragen.
Wann zum Beispiel?
Selman: Ich hatte grosse Diskussionen mit meiner Mutter, die geschieden ist und wieder heiraten wollte. Wir haben eine Liste mit Pros und Kontras gemacht. Da hat sie gemerkt, dass die Nachteile überwiegen.
Um trotzdem zu heiraten.
Selman: Eben nicht. (lacht) Dank unserer Gespräche war meine Mutter in der Lage, das traditionelle Konstrukt «Hochzeit» zu hinterfragen.
Ruth Schweikert: Ich plädiere immer für den Dialog. Auch wenn er nicht zwingend damit endet, dass der eine den anderen überzeugt.
Sondern?
Schweikert: Damit, dass man einander in seiner Unterschiedlichkeit wahrnimmt.
Ich plädiere immer für den Dialog.
Spricht da die Mutter von fünf Söhnen aus Ihnen?
Schweikert: Ich muss gerade an unsere Zwillingssöhne denken, die sich etwas schwer tun mit den vielen Möglichkeiten, die ihnen das Leben hier und heute bietet. Was mache ich, wenn ich mit all diesen Privilegien aufgewachsen bin, als einer von Millionen junger weisser Männern? Wie kann ich meine Existenz nicht nur als Belastung für die Umwelt empfinden, sondern trotzdem mein Potenzial entfalten?
Generationenkonflikte haben immer auch mit Vorurteilen zu tun. Welche Vorurteile haben sich für Sie in der Coronazeit erledigt?
Höpflinger: Eigentlich keine. In der Schweiz haben wir wenig grundlegende Wertunterschiede zwischen Jung und Alt. Wir haben eher das Problem, dass viele Ältere die Generationenunterschiede nicht mehr wahrnehmen.
Die 65- bis 74-Jährigen halten sich für genauso innovativ wie die 15- bis 24-Jährigen. Kommt noch dazu, dass die Älteren, vor allem Männer, den Wert ihrer Erfahrung überschätzen.
Schweikert: Wir haben gelernt, ewig jung zu sein, das ist das Einzige, was zählt. Es gibt aber auch den Wert der Erfahrung und des Nachdenkens. Wenn die Alten in Bezug auf technologische Entwicklungen mit den Jungen konkurrieren wollen, sehen die meisten tatsächlich alt aus.
Aber nicht jede Innovation ist auch ein Fortschritt. Erfahrung und Distanz können helfen, Entwicklungen einzuordnen und ihre Bedeutung besser zu verstehen – und vielleicht auch infrage zu stellen.
Hat Corona Ihren Blick auf die Generation Höpflinger verändert?
Selman: Ich bin überrascht, wie wenig Probleme die Generation mit der Digitalisierung hatte.
Meier: Ist doch toll, wie viel sich in so kurzer Zeit verändert hat. Ich kenne Eltern von Freunden, die Homeoffice zu Beginn des Lockdowns schrecklich fanden. Jetzt wollen sie es ein, zwei Tage die Woche beibehalten.
Schweikert: Homeoffice ist vor allem dann interessant, wenn es dazu führt, dass man weniger Auto fährt und fliegt. Vieles lässt sich online verhandeln, vieles nicht. Aber ich mache mir auch Sorgen um die junge Generation.
Weil sie sich so mustergültig verhalten hat?
Schweikert: Letztes Jahr sind mit den Schülerinnen und Schülern auch viele ältere Menschen für das Klima auf die Strasse gegangen. Jetzt waren die Älteren vor allem eine «Risikogruppe». Dabei hat man längst gemerkt: Corona betrifft nicht nur die Älteren.
40 Prozent der hospitalisierten Corona-Patienten waren unter 60. Ausserdem hat der deutsche Politiker Wolfgang Schäuble recht, wenn er sagt, die Jungen seien stärker betroffen, weil die Alten ihr Leben grösstenteils gelebt haben.
Meier: Mein Eindruck war, dass die jungen Leute all die Einschränkungen ziemlich klaglos befolgt haben. Ich war überrascht, wie solidarisch wir miteinander umgehen.
Höpflinger: Plötzlich lagen alte Kochbücher auf den Küchentischen junger Menschen.
Ist der Mensch solidarischer geworden im Laufe der Geschichte, Herr Höpflinger?
Höpflinger: Die familialen Generationenbeziehungen sind heute besser denn je. Ausserfamilial haben wir zur schönen Strategie des anständigen Nebeneinanders gefunden.
Mit Verlaub: Mir klingt das alles ein wenig zu sehr nach Konsenskitsch.
Schweikert: Ich habe es in den letzten Wochen ähnlich erlebt. Jetzt beginnt es aber wieder zu knirschen im Gebälk. Plötzlich steht die Frage im Raum: Wer zahlt das alles? Müssen die Jungen ran?
Was mich wirklich ärgert, ist dieser Wunsch nach einem «back to normal». Nein, wir gehen nicht zurück. Wir gehen voran. Nur wissen wir nicht, wie das aussieht. Das ist beunruhigend, es schafft aber Spielräume.
Höpflinger: Wir haben in der Schweiz beste Voraussetzungen für ein gesellschaftliches Miteinander. Die Millennials haben schon früh auf gemeinschaftliche Strukturen gesetzt, die sich jetzt in der Coronakrise bewährt haben. Das begann vor 20 Jahren in der Start-up-Szene.
Müssten die Jungen nicht die Faust auf den Küchentisch schlagen und sagen: Nun müssen wir die Alten schonen, die uns diese unheilbar kranke Welt erst eingebrockt haben?
Meier: Der Gedanke, wir Jungen müssten die Älteren schützen, hat sich schnell erledigt. Weil wir merkten, dass es gar nicht so schlimm ist, sich mal zurückziehen zu müssen. Dank Corona konnte man einfach zuhause sein, sich mit der Familie und den engen Freunden beschäftigen.
Oder mit dem Smartphone.
Meier: Bestimmt auch. (lacht)
Ich versuche mir vorzustellen, wie das bei Ihnen am Mittagstisch so tönt, Frau Schweikert. Fühlen Sie sich da manchmal alt?
Schweikert: Bis jetzt sind wir immer davon ausgegangen, die Lebenserwartung nehme zu. Das führte dazu, dass man der quantifizierbaren Lebenszeit, dem Überleben an sich einen Wert beigemessen hat, der möglicherweise gar nicht gerechtfertigt ist.
Wollen wir alle das Leben quasi als Biomasse verlängern? Oder geht es um Qualität? Das eine muss das andere nicht ausschliessen. Aber was würde es bedeuten, wenn wir uns der eigenen Sterblichkeit wieder ein bisschen bewusster würden?
Gehen wir einmal vom Menschlichen zum Politischen: Wie lange geben Sie der Demokratie noch, Herr Selman?
Selman: Die Coronakrise hat gezeigt, was passiert, wenn der Bundesrat direkt entscheiden kann. Die Schweiz, die ganze Welt hat gelernt, dass Demokratien langsam sind. Ein Trend, der sich im Internet beobachten lässt, ist die politische Radikalisierung – bei meiner Generation, vor allem aber bei den noch Jüngeren.
Höpflinger: In der Schweiz ist die Demokratie gerade nicht in Gefahr, weil wir eine gute Durchmischung haben. Bei uns gibt es keine Ghettos wie in den USA. In den sozialen Medien wird das anders dargestellt. Aber was in den sozialen Medien dargestellt wird, ist nicht unbedingt das, was die Leute im Alltag erleben.
Meier: Da verändert sich schon etwas. Viele Junge wollen etwas verändern. Das lässt sich im Moment auch im Zusammenhang mit der «Black Lives Matter»-Bewegung beobachten.
Margot Kässmann, die streitbare deutsche Theologin, hat einmal gesagt, die Babyboomer seien die letzte «Luxusgeneration». So gut wie sie hatte es keine Generation je vor ihr. Und so gut wie die es hatten, wird es keine Generation je wieder haben. Einverstanden?
Selman: Das grosse Problem meiner Generation sind all die Möglichkeiten, die wir haben. Andererseits ist man mit so vielen Problemen konfrontiert. Man weiss von Dingen, die den älteren Generationen zwar auch bewusst waren. Aber heute ist das alles dank Smartphone und Internet viel präsenter.
Ich hoffe, dass jeder merkt, dass der Nachbar von nebenan, vom Nachbardorf, vom Nachbarkanton und vom Nachbarland nicht anders ist als wir. Sondern einfach Mensch. Vielleicht ändert sich so das Verständnis des Wortes «Fortschritt». Vielleicht verstehen wir Fortschritt nicht mehr im Sinne von Wohlstandsvermehrung, sondern setzen ihn mit Chancengleichheit gleich.
Schweikert: Die Chancengleichheit hat sich zum Glück verbessert. Das ändert nichts daran, dass Menschen unterschiedliche Voraussetzungen haben, körperlich, psychisch, intellektuell.
Für eure Generation gilt: Die Gesellschaft wird sich daran messen lassen müssen, wie sie es schafft, Menschen wertzuschätzen, die leistungsmässig nicht so fit sind, deren Fähigkeiten gerade nicht so gefragt sind.
Hat Frau Kässmann recht, sind die Babyboomer die letzte «Luxusgeneration», Herr Höpflinger?
Höpflinger: Die Generation der Babyboomer ist vermutlich schon die glücklichste Generation, die es je gab. Es gab keine Jugendarbeitslosigkeit, die Babyboomer profitierten vom Ausbau des Sozialstaates. Heute werden Milliarden aus der Pensionskasse zu Lasten der Jüngeren an die Pensionierten ausgegeben. Der Generationenvertrag kommt immer mehr in Schieflage.
Selman: Ich würde Glück nie mit Arbeitsplätzen oder finanziellem Wohl gleichsetzen.
Glück hängt mit Sicherheit zusammen.
Höpflinger: Die Datenlage zeigt eindeutig: Wer Arbeit hat, hat ein höheres Wohlbefinden. In einer Arbeitsgesellschaft entstehen psychische Probleme, wenn die Leute keine Arbeit haben.
Meier: Glück hängt mit Sicherheit zusammen. Deshalb ist es wichtig, dass man Anpassungen zu Lasten der jetzt Älteren macht, die für uns Junge mal relevant sein werden.
Was müssen sich die Alten von den Jungen abschauen?
Höpflinger: Die Älteren erwarten immer noch lineare Karrieren. Die Jungen sind längst bereit, etwas zu ändern. Deswegen propagieren wir in Unternehmen das sogenannte «Reverse Mentoring». Die Älteren sollen von den Jungen lernen.
Deshalb wurde etwa im Rahmen der «Altersstrategie Zürich» vorgeschlagen, dass Leute aus der Start-up-Szene oder Slam-Poeten älteren Leuten ihre Welt erklären. Die müssen deren Ansichten nicht akzeptieren. Aber sie sollen wissen, dass es sie gibt.
Blind für die Welt der Jungen: Trump-Syndrom!
Sie schicken junge Menschen mit einer Power-Point-Präsentation ins Altersheim?
Höpflinger: Das Problem mit neuen Entwicklungen beginnt in der Arbeitswelt oft schon bei den 50-Jährigen. Menschen im Pflegeheim wissen, dass ihre Erfahrung nicht mehr relevant ist. Einige leben wie gestrandete Zeitreisende, und das dürfen sie auch. Aber wenn aktive Stimmbürger oder ältere Manager blind für die Welt der Jungen sind, dann wird es gefährlich. Trump-Syndrom.
Schweikert: Es kann doch nicht sein, dass ein 50-Jähriger nur noch in seinen Defiziten gesehen wird. Der Prozess eines ganzen Lebens ist ein Reichtum. Selbst, wenn jemand bremst, weil er nicht auf dem neuesten Stand ist, kann er bedenkenswerte Gedanken haben.
Höpflinger: Ich habe unlängst versucht, den Nutzen der Erfahrung älterer Arbeitskräfte über einen Zeitraum von zehn Jahren zu messen. Geht nicht. Niemand weiss, welche Erfahrung noch etwas wert ist. Grundsätzlich: Die Älteren neigen dazu, ihre Erfahrung zu überschätzen.
Die einzige Strategie, die in Firmen funktioniert, ist die des «Diversity Managements» . Es gilt, aus den verschiedenen Perspektiven und Lebenshintergründen Kraft zu gewinnen, ohne deswegen die Unterschiede auszublenden.
Corona hat uns in vieler Hinsicht die Grenzen aufgezeigt. Grenzen sind immer auch dazu da, gesprengt zu werden. Was wünschen Sie sich für die Zukunft – mit Blick auf das Zusammenleben der Generationen?
Schweikert: Wir sollten nicht einfach sagen: Wir haben es hinter uns, jetzt gehen wir zurück zur Normalität. Ich weiss zwar nicht, wie das geht. Aber ich wünschte, wir hätten alle begriffen, dass wir die Zukunft mitgestalten können. Gemeinsam. Wir sollten diesen Raum, den wir alle erlebt haben, nicht preisgeben. Diesen Raum für das Offene, das Unverhoffte.
Ich hoffe, dass Menschlichkeit wieder an Bedeutung gewinnt.
Meier: Ich würde mir wünschen, dass wir gemerkt haben, wie schnell sich Dinge verändern können. Dass wir schneller handeln müssen. Dass wir zusammenarbeiten müssen, damit sich etwas verändern kann.
Höpflinger: Ich denke in Richtung «Sorgende Gesellschaft», in der überdimensionierte Spassveranstaltungen wie Street Parades, Oktoberfeste und Open-Air-Konzerte mit hunderttausenden Besuchern wegfallen. Aber auch Kreuzfahrtschiffe für Babyboomer. Lieber Qualität statt Quantität.
Selman: Ich erhoffe mir für die Zukunft mehr Vernetzung, auch mehr Globalisierung. Mit dem Hintergedanken, dass man sich stärker mit Problemen anderer auseinandersetzt.
Gesellschaften und Kulturen vermischen sich immer mehr und immer schneller. Irgendwann wird hoffentlich jeder Mensch wissen, dass er in erster Linie Mensch ist. Ich hoffe, dass der Begriff «Menschlichkeit» wieder an Bedeutung gewinnt.
Das tönt jetzt vielleicht etwas kitschig. Aber ich mag Kitsch.
Das Gespräch führte Stefan Gubser.