Wenn Joachim Gauck das Wort ergreift, dann hören die Menschen zu. Das Charisma, das Pathos und die authentische Art des ehemaligen Bundespräsidenten Deutschlands berühren die Menschen über Grenzen hinaus.
Trost in der Krise
«Wir spüren die Ohnmacht, aber die Ohnmacht hat uns nicht. Wir spüren die Angst, aber die Angst hat uns nicht. Wir spüren die Wut, aber die Wut hat uns nicht», sagte er an einer TV-Weihnachtsansprache kurz nach den islamistischen Anschlägen auf den Weihnachtsmarkt in Berlin.
Es war Trost und Aufmunterung mitten in der Krise. Etwas, das man heute auch wieder gut gebrauchen kann.
Aufsässige Predigten
Das Reden mag Gauck in der DDR gelernt haben: Dort leistete er lange als Gemeindepfarrer Jugendarbeit und hielt aufsässige Predigten.
Wie schaut er heute auf sein Leben zurück, das ihn nach der Wiedervereinigung zur Aufarbeitung des Aktenberges der Bespitzelung durch die Stasi und schliesslich bis ins höchste Amt Deutschlands gebracht hat? «Dass ein kleiner Junge aus der Nachkriegszeit fünf Lebensjahrzehnte in einer Diktatur lebt und schliesslich Präsident eines grossen freien Landes wird, das ist wunderschön und erfüllend.»
Unideologisch links, liberal und konservativ
Der Parteilose bezeichnet sich als «liberal, links und konservativ». Kein Widerspruch für Joachim Gauck.
Das Liberale, so sagt er im Gespräch, betreffe vor allem die Idee der Freiheit: «Je älter ich werde, desto liberaler werde ich. Es geht für mich um den Freiheitsgedanken. Mein linker Denkansatz besteht darin, dass ich nicht akzeptieren kann, wenn bestimmte Personen oder Gruppen dauerhaft daran gehindert werden, Chancengleichheit zu erfahren.» Und das Konservative? Das sei eng verbunden mit der christlichen Tradition.
Glaube, geerdet durch Zweifel
Wer ist dieser Gott heute für ihn? Gauck spricht von einem «verborgenen Gott», den er nicht definieren kann. Mit dem er aber eine Beziehung lebt, die ihn durch viele schwierige Situationen getragen hat. Eine Beziehung, die ihm die Fähigkeit gibt, «etwas mehr und über die Widrigkeiten hinaus hoffen zu können».
Es ist ein Gott, an dem Gauck ständig zweifelt. Vielleicht habe «der Ewige» genau deswegen unsere Ratio mit dem Element des Zweifels ausgestattet: Damit wir immer genau hinschauen und uns fragen, ob das Gegenteil wahr sein könnte.
«Der Glaube von rational denkenden Menschen muss durch Zweifel geerdet werden», sagt Gauck. «Wenn man Pech hat, endet man im Zweifel. Wenn man Glück hat, ist man ein zweifelnder Glaubender.»
Gegen jede Hysterie
Von der allgegenwärtigen Rede über die Spaltung der Gesellschaft hält er nicht viel. Hier spricht der Staatspolitiker Gauck: Er warnt vor Hysterie und Alarmismus, etwa im Zusammenhang mit Rechtspopulisten.
Statt den Leuten zu sagen, man stehe kurz vor dem Abgrund, solle man mit ihnen diskutieren, innerhalb der Regeln der offenen Gesellschaft. «Es gibt nicht nur wahnhafte Menschen mit kruden Verfolgungstheorien, sondern Menschen, die gegen Freiheitseinschränkungen sind. Man muss mit denen reden und streiten.»
Mit Corona-Leugnern und Impfgegnerinnen will er die Debatte führen, auch wenn er sie mitunter als «Bekloppte» bezeichnet. Ihren Freiheitsbegriff lehnt er ab, weil dieser andere Mitmenschen beschädige.
Vehementer Verfechter der Meinungsfreiheit
Viele von Joachim Gaucks Argumenten verweisen auf seine einschneidenden Erfahrungen in der DDR: Er kennt die Untertanenmentalität und weiss, wie die Einteilung in Schwarz oder Weiss, in Gehorsam oder Oppositionell alle Lebensbereiche durchdringt und Menschen zerstören kann.
Darum verteidigt er so vehement die demokratischen und staatlichen Institutionen, die Meinungsfreiheit und die Streitkultur. Darum kehrt Gauck in seinen Gesprächen und Reden immer wieder zu den Schlüsselbegriffen Freiheit, Toleranz und Vertrauen zurück. Mit der Wortgewalt des Bundespräsidenten und dem zweifelnden Glauben des Christen.