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Grosse Häuser – gute Seelen Putzen statt schmökern

Gina Morciano putzt in der schönsten Bibliothek der Schweiz. Neugierig auf den historischen Lesestoff ist sie nicht.

Langsam schieben sich Besucher in ihren übergrossen Filzpantoffeln über den blanken Holzboden der Stiftsbibliothek in St. Gallen. Der Tannenboden mit den grossen Sternen und Schlingen aus Nussbaum ist eine Pracht.

Andächtig lassen die Besucher den Blick schweifen über die gewölbte Decke mit den Stuckaturen und Malereien und bestaunen die uralten Bücher, die in ordentlichen Reihen in den vergitterten Büchergestellen stehen.

Im Innern einer barocken Bibliothek
Legende: Imposanter Arbeitsort: die Stiftsbibliothek in St. Gallen. SRF/ Claudia Herzog

Allenthalben sind raunende Ahs und Ohs zu hören. Der barocke Bibliothekssaal mit seinen 30'000 kostbaren Büchern lässt niemanden kalt.

Grossputz mit Spezialpapier und Pinsel

Allerdings: Gina Morciano hat sich an diese Pracht gewöhnt. Seit 20 Jahren putzt sie in der Klosterschule und der Stiftsbibliothek. «Per me è una cosa naturale», sagt Gina Morciano. Und diese natürliche Sache bezeichnet sie lachend als ihr zweites Daheim.

Während zwei Wochen im November ist Grossputz angesagt. Dann rücken Gina Morciano und fünf Kolleginnen an, ausgerüstet mit Spezialpapier, Pinseln, Staubsaugern und Handschuhen.

Der Staub eines Jahres

Zu zweit nehmen sich die Frauen Büchergestell um Büchergestell vor. Sorgfältig ziehen sie die kostbaren, schweren Bücher aus dem Gestell, stauben sie mit dem Spezialpapier ab und achten darauf, dass die Bücher geschlossen bleiben, damit kein Staub ins Innere gelangt.

Auf Tischen werden die Bücher zwischengelagert. Dann werden die Tablare mit dem Spezialpapier und die Gitter mit dem Staubsauger abgestaubt.

Der Staub eines Jahres färbt das weisse Papier schnell schwarz. Fein säuberlich werden die Bücher der Reihe nach wieder im Gestell platziert, ein Kontrollblick auf die Nummerierung gehört dazu.

Eine Frau steht vor einer Leiter in einer Bibliothek
Legende: Gina Morciano kümmert sich sorgfältig um die rund 170'000 Publikationen der Bibliothek. SRF/ Claudia Herzog

Für Gina Morciano ist diese jährliche Arbeit im UNSECO-Weltkulturerbe Routine. Während Besucherinnen und Besucher die grösste Lust hätten, in einem der wertvollen Bücher zu blättern, schüttelt Gina Morciano den Kopf.

Keine Neugier, die Bücher zu öffnen

Sie, die vor 30 Jahren als 19-Jährige ihre Heimatstadt Lecce im Süden Italiens verliess, um in der Schweiz Arbeit zu finden, erklärt: «Ich hatte ehrlich gesagt noch nie die Neugier, eines der Bücher zu öffnen.» Putzen statt in Büchern schmökern. Oder anders gesagt: Gina Morciano und ihre Kolleginnen arbeiten höchst professionell.

Grosse Häuser – gute Seelen

Box aufklappen Box zuklappen

In den grossen Kulturhäusern brillieren die Heldinnen und Helden mit ihren Auftritten, Inszenierungen und Ausstellungen. Die grossen Häuser brauchen aber auch die guten Seelen. Sie wirken im Hintergrund, machen das Unmögliche möglich, haben sich über die Jahre ein enormes und für das Haus nahezu unersetzbares Wissen erarbeitet. Zum Jahreswechsel lassen wir fünf gute Seelen zu Wort kommen.

Bühnentechnikerin Corinne Muggli im KKL

Fossilienpräparator Gino Bernasconi im Naturhistorischen Museum Bern

Maskenbildnerin Judith Janser im Schauspielhaus Zürich

Münzenfotograf Alwin Seiler im Historischen Museum Basel

Raumpflegerin Gina Morciano in der Stiftsbibliothek St.Gallen

Zum Schluss zieht Gina Morciano einen Pinsel mit weichen Borsten aus ihrer Fleecejacke hervor. Damit staubt sie, sorgfältig und flink, die Stuckaturen und Engel ab und zeigt schmunzelnd auf zwei Fremdlinge.

Der Rabe und das Krokodil

Auf der elegant geschwungenen Galerie sitzt ein Rabe, gegenüber hängt ein kleines Krokodil. Das sind Überbleibsel der Ausstellung «Seelenwärmer».

2005 hatte das Künstlerduo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger die Bibliothek mit einer wundersamen Welt aus getrockneten Blumen und ausgestopften Tieren ergänzt. Morciano erinnert sich gut an diese Ausstellung, die die Besucher in Scharen anlockte.

Eine Frau öffnet eine schwere Holztüre
Legende: Hinter diesen Türen verbergen sich keine verstaubten Bücher – dafür sorgt Gina Morciano. SRF/ Claudia Herzog

Sich warm anziehen

Wer in dieser einmaligen Barockbibliothek in St. Gallen arbeitet, muss sich auf besondere Raumtemperaturen gefasst machen und sich warm anziehen.

Weil es in der Bibliothek keine Heizung hat, zeigt das Thermometer an einem kühlen Novembertag nicht mehr als 12 Grad. Kühl sei das schon, findet Morciano, die die Wärme ihrer süditalienischen Heimatstadt Lecce schätzt.

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