So geschehen kürzlich an einem Junggesellinnenabschied. «Valérie soll den Blumenstrauss fangen», sagt die Braut beim Nachtessen und zeigt auf eine ihrer Freundinnen. «True that», nickt ihr Gegenüber, «sie soll ganz vorne stehen!»
Während die Gruppe über die Pole Position für den Brautstrauss-Catch sinniert, frage ich mich: Warum macht man das heute überhaupt noch? Einen Strauss in eine Menge werfen – nur mit Frauen, versteht sich?
Steckt da nicht die alte und sehr seltsame Idee dahinter, die Frau warte nur darauf, von einem Mann ausgewählt zu werden, um endlich unter die Haube zu kommen?
Rütteln an Ritualen
Das Brautstrauss-Werfen und andere Hochzeitsrituale nahm man lange als gegeben an. Macht man halt an einer Hochzeit, so der Tenor. Heute wird die Ehe viel kritischer betrachtet. Im Zuge dessen haben auch althergebrachte Hochzeitsbräuche einen schweren Stand.
Bezeichnend dafür ist Emilia Roigs neues Buch «Das Ende der Ehe», das in Windeseile zum Bestseller wurde. Die Ehe als Institution wurzle im Patriarchat, schreibt die Politologin. Sie sei rückständig und gehöre abgeschafft. Und zwar für immer.
Die Zahlen des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut SPI sprechen eine ähnliche Sprache: Die kirchliche Hochzeit ist immer weniger gefragt. Vielen ist sie zu konformistisch, zu religiös.
Laut den neusten Zahlen des SPI haben 2012 genau 4548 Paare katholisch geheiratet. Zehn Jahre später war es nur noch fast die Hälfte. Eheschliessungen in der evangelisch-reformierten Kirchen lassen sich bis in die 1960er-Jahre zurückverfolgen. Wurden damals jährlich noch mehr als 16'000 Paare getraut, waren es 2017 noch 3287.
Die Zahl der zivilen Trauungen jedoch ist seit Jahren auf stabilem Niveau. Damit einher geht der Boom der freien Trauungen. Ihr Trumpf: Eigene, konfessionslose Rituale lassen sich nach eigenem Gutdünken einbauen. So werden heute oft sogenannte Liebesfeste oder Familiengründungsfeste statt Hochzeiten gefeiert.
Wie heiraten die Paare in der heutigen Zeit? Welche traditionellen Bräuche halten sich, und was sagt das über unser gesellschaftliches Verständnis von Ritualen aus? Letztes Jahr haben sich in der Schweiz mehr als 40'000 Personen zivil getraut. Zum Beispiel die Fontanas.
Hauptsache anders
«Alles kann es sein. Nur nicht 08/15.» Das war Flemming Fontanas einziger Wunsch für seine Zeremonie. Er, der nie heiraten wollte, bis er Angela kennenlernte. Dank des Göttibuben, den sie teilen.
Flemming Fontanas Ansage steht für einen gesamtgesellschaftlichen Trend. «Es gibt ein grosses Bedürfnis nach Individualisierung», sagt Marie-Therese Mäder. Die Medien- und Religionswissenschaftlerin forscht zu zeitgenössischen Hochzeitsritualen. «Die Paare wollen die Hochzeitsrituale selber gestalten, um sich von der Masse abzuheben.»
Dieses Bedürfnis folge der neoliberalen Logik, man müsse sich selbst und seine Handlung stets optimieren, erklärt Mäder. «Das beste Fest, das beste Kleid, das beste Foto: Ich will mich bestmöglich darstellen.»
Viele Paare argumentieren: Ihre massgeschneiderten Rituale während einer freien Trauung passen besser zu ihnen als die teils verstaubten Bräuche vom Typ Blumenstrauss-Wurf.
Wie einst die Wikinger
Auch für Angela und Flemming Fontana war klar, dass sie ihre eigenen Rituale wollen. Sie recherchierten keltische Bräuche und legten ihren Hochzeitstermin auf das keltische Beltane-Fest am 30. April.
Flemming Fontana begann die Wikinger-Trauung, indem er seine Frau mit dem Horn zu sich rief. Angela Fontana kam hoch zu Ross, mit ihrem Vater und den Kindern aus erster Ehe und überreichte ihrem Gemahl das eigens gekaufte Familienschwert.
«Im Zentrum steht nicht eine höhere Macht»
Höhepunkt der Zeremonie war das sogenannte «Handfasting»-Ritual. Dabei werden drei Bänder – eines steht für ihre, eines für seine, eines für ihre neue gemeinsame Familie – mit einem Unendlichkeitsknoten zusammengeknüpft.
«Mir gefällt die Symbolik dieses keltischen Rituals», sagt Angela Fontana. Es habe absolut nichts mit der Kirche zu tun. «Im Zentrum steht unsere Vereinigung und nicht die Gnade einer höheren Macht, der wir unser Glück zu verdanken hätten.»
Bei Fontanas gibt es auch den klassischen Brauch des Ringtauschs in einer Art «Upgrade-Version». Sie werden sich ihre Eheringe – ein keltisches Knopfmuster – auf den Finger tätowieren lassen.
Diesen Ring könne man nicht abziehen. «Nicht wie die Ehemänner, die den Ring verschwinden lassen, sobald sie eine 20-Jährige in einer Bar sehen», meint Flemming Fontana neckisch und ernst zugleich. «Man trägt ihn bis zum letzten Atemzug.»
Ein Gefühl greifbar machen
Ab heute für immer. Mit der Hochzeit entscheidet man sich also für ein Leben zusammen, so die gängige Idee. «Dieses Versprechen ist per se etwas Metaphorisches», sagt Religionswissenschaftlerin Mäder. Denn: Was bedeutet Liebe überhaupt. Und was ein Leben lang?
Hier kämen Hochzeitsrituale ins Spiel. «Rituale werden gewählt, um diesem nicht fassbaren und abstrakten Gefühl Ausdruck zu verleihen», sagt Mäder. Rituale markieren eine Statusveränderung. Ganz egal, ob man sehr klassisch heiratet oder eine freie Trauung mit modernisierten Ritualen wählt.
Die Unterschrift ist überschätzt
Rituale haben einen wichtigen Stellenwert. Eben auch, wenn man offiziell gar nicht verheiratet ist. Das zeigen Maxime Nielsen und Sarah Baumann. Die beiden wollten bei ihrer Trauung weder die Kirche noch den Staat an Bord haben.
In der Kirche gehe die Individualität verloren und gegen das Standesamt haben sie sich aus pragmatischen Gründen entschieden. Es rechne sich nicht. Ein Grund, den immer mehr Paare anbringen. «Die Form der Liebe, die wir füreinander haben, muss man nicht mit einer Unterschrift besiegeln», sagt Maxime Nielsen.
Trotzdem organisierten sie ein grosses Hochzeitsfest am Forellensee im Kanton Bern – inklusive Trauredner, weissem Kleid, Ja-Wort und persönlicher Liebeserklärung vor 80 Gästen.
Ringe ja, Torte nein
Dass das eine «richtige Hochzeit» sei, musste Maxime Nielsen seiner Grossmutter im Walliser 700-Seelen-Dorf zuerst erklären. Neben den konventionellen Ritualen hat das Paar, das sich als Teenager während eines Sprachaufenthalts in Dijon kennenlernte, noch ein neueres eingebaut: ein «Ringwarming».
Dabei durchlaufen die Ringe an einem Band aufgefädelt die Hände aller Gäste. Jede und jeder gibt dem Ring und Paar einen Wunsch mit auf den Weg. Das Interaktive habe ihm an diesem Ritual gefallen, sagt Maxime Nielsen.
Ringe ja, aber auf Bräuche wie den Hochzeitstanz oder die Hochzeitstorte anschneiden «und schauen, wer die Hand oben hat», hätten sie bewusst verzichtet, sagt Nielsen. Sie bezeichnen sich als verheiratet, obwohl sie es ganz offiziell nicht sind.
Wieso ist es ihnen wichtig sich, trotz Nein zur klassischen Ehe, das Ja-Wort vor Zeugen und mit grossem Fest zu geben? «Wir wollen unsere Verbindung zelebrieren», antwortet Nielsen, «und allen danken, die einen Anteil an unserer Geschichte haben.»
Der Hochzeits-Charakter ist wichtig. «Ich wusste das selber nicht, aber unterbewusst war da wohl eine Neugier, diese traditionellen Rituale mal zu erleben», reflektiert der Zürcher im Gespräch.
Wunsch nach Anbindung
Obwohl man vielen Hochzeitstraditionen den Rücken zukehrt und Rituale individualisiert, bleibt die Mehrheit einigen Bräuchen treu. Wieso? Diese Rituale seien Kultur, sagt Marie-Therese Mäder. «Auch wenn es das Bedürfnis nach individualisierten Ritualen gibt, ist der Wunsch nach Anknüpfung genau so gross.»
Es gehe um Identität. Die Paare wollen sich einer Tradition zugehörig fühlen, so Mäder. Der Brauch des Heiratens mit seiner bestimmten Form und Geschichte, ist grösser als man selber. Rituale leben von der Übereinkunft, wie sie gemacht werden müssen. Die Abläufe geben Sicherheit.
Ein Hauch von Hollywood
Im Fall der Hochzeitsrituale stammten diese gemeinsamen Codes aber aus einer Zeit, als die Frau noch als Eigentum ihrer Familie betrachtet und dem Mann untergeordnet war, sagt Religionswissenschaftlerin Mäder.
So steht etwa der Brautschleier für Keuschheit, das weisse Kleid für die Reinheit der Frau. Es ist der Mann, der die Braut küssen darf. Nach wie vor übernimmt eine Mehrheit der Frauen den Namen des Mannes.
Wird der Ursprung dieser Rituale ignoriert oder ist er den meisten gar nicht bewusst? «Teils, teils», sagt Mäder. Eine grosse Rolle spielten hier vor allem die wirkmächtigen Vorbilder aus der Popkultur. Filme oder beliebte US-amerikanische Hochzeitsshows normieren die Vorstellung, wie eine Trauung auszusehen hat – eben auch freie Trauungen.
Ähnlich beschreibt das Maxime Nielsen. «Sarah ist hochgebildet, emanzipiert, erfolgreich, tough», sagt er. «Aber das weisse Kleid gehört zum Mädchentraum. Das war gesetzt.»
Auf einem Auge blind
Obwohl für viele Gleichstellung zwingend ist, werfen sie im nächsten Moment einen Brautstrauss in die Frauengruppe. Es ist, so scheint es, ein stetes Abwägen. Drückt man das progressive Auge zu, zugunsten des bekannten Brauchs mit den etablierten Spielregeln?
«Kulturelle Praktiken zu reformieren, ist ein langer Prozess», räumt Mäder ein. Und einer, den man nicht als Individuum mache, sondern als ganze Gesellschaft. Am ehesten seien es queere Paare, die die patriarchale Konstellation von Hochzeiten hinterfragen.
Zwischen Torte und Tradition
«Ganz schlimm» findet Lucia Frei für sich persönlich etwa den Brauch, als Braut vom Vater an den Altar geführt und «übergeben» zu werden. Frei hat letztes Jahr ihre langjährige Freundin Julia Müller geheiratet. «Julia und ich sind zusammen händchenhaltend reinspaziert», erzählt die 30-Jährige.
Der «queere Touch» war den beiden bei ihrer Trauung wichtig. Sie haben im Abstimmungskampf für die «Ehe für alle» gekämpft, ein langer und auch schmerzhafter Weg. Drag Queen Mona Gamie, eine Freundin des Paares, führte durch die Trauung auf den Brissago-Inseln.
Eine Burlesque-Show und Regenbogen-Hochzeitstorte rundeten das Fest ab. «Das Hotelpersonal hatte auch Freude daran, dass an unserem Hochzeitsfest vieles etwas anders war», lacht Frei.
Aus Liebe zur Liebe
Nichtsdestotrotz gab es auch beim queeren Paar ein Ja-Wort und Ringtausch. «Gewisse traditionelle Elemente gehören auch für uns dazu.» Sich vor den wichtigsten Menschen in ihrem Leben dieses Versprechen zu geben, würde es offizieller machen. «Das Ritual hat eine spezielle Bedeutung für uns», sagt Lucia Frei.
Auch haben beide ein weisses Brautkleid getragen. Jedoch nicht aus symbolischen Gründen. Sie mögen dramatische Kleider und wollten nach Hochzeit aussehen. «Eine gängige Praxis», sagt Marie-Therese Mäder. «Queere Paare wollen auch Teil werden des kulturellen Skripts.»
So tönt es auch bei Julia Müller und Lucia Frei. Für beide war zum Beispiel klar, dass sie keine eingetragene Partnerschaft wollten, sondern auf die «Ehe für alle» warten. Wenn, dann richtig und vor allem – so, wie es andere Paare in der Schweiz auch können. «Wir haben aus romantischen Gründen geheiratet, aber auch als politisches Statement. Um zu sagen: Unsere Liebe ist gleichwertig.»
Ihre Sträusse haben die zwei auch geworfen. Die ganze Hochzeitsgesellschaft musste mitmachen – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Beziehungsstatus. Wer einen davon fing, durfte selbst entschieden, was der Strauss bedeutet. Ein altes Ritual mit neuer Bedeutung.