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Internationale Adoptionen Illegal adoptiert: Jovita Bielers Suche nach der Wahrheit

Fehlende Dokumente, dubiose Vermittlerinnen, untätige Behörden. Jovita Bieler wurde als Baby aus Indien adoptiert. Heute sucht sie nach Antworten – doch die Zeit läuft gegen sie.

Da ist eine Lücke, die Jovita Bieler schon ihr Leben lang begleitet: «Meine Eltern haben mir von Anfang an gesagt, ich sei aus Indien.» Mehr erfährt sie nicht über ihre Herkunft. Diese Ungewissheit prallt auf das Gefühl, etwas zu vermissen: «Wenn ich als Kind in der Bibliothek ein Buch zu Indien fand, hab ich jedes Detail aufgesogen.»

Jovita Bieler wird 1986 als 8-monatiges Baby von einem Schweizer Ehepaar adoptiert und wächst in Winterthur auf. Sie ist als Kind praktisch die einzige Person of Color in ihrem Umfeld. «Es war ein einsames Aufwachsen», sagt sie.

Haut und Haare des Kindes werden kommentiert. Sie bekommt indiskrete Fragen gestellt wie «Woher chunsch würklich?», «Wie bisch denn du i d'Schwiiz cho?» oder «Wär isch dis richtige Mami?».

Sie erlebt auch offensichtlichen Rassismus. «Aber wenn ich als Kind zuhause über solche Erlebnisse sprechen wollte, wurden meine Gefühle meist negiert oder verharmlost.» Jovita hätte es wohl falsch verstanden. Die Leute hätten die Kommentare schon nicht so gemeint.

Viele Fragen, keine Antworten

Die unbeantworteten Fragen begleiten Jovita Bieler durch ihre Kindheit, durch ihre Jugend. Eine Lücke. Stets präsent, aber unbesprochen.

Jovita Bieler ist 25, als diese Lücke plötzlich Konturen bekommt. Sie reist zum ersten Mal nach Indien. «Mein Herz ist aufgegangen und ich dachte ‹Wow, das ist also mein Land!›» Sie ist mit ihrer Arbeitskollegin in Nordindien unterwegs. Die beiden arbeiten für ein Reisebüro und planen eine Indienreise.

Porträt von Frau, rechts im Bild, blickt in Kamera. Im Hintergrund verschwommen Rebberg.
Legende: Jovita Bieler hat ihre Adoption lange nicht kritisch hinterfragt. «Man suggerierte mir, ich müsse einfach dankbar sein.» SRF/Gian Vaitl

Bald darauf reist sie erneut nach Indien. Dieses Mal privat und in den Süden. Nach Goa, ihrem Geburtsort. «Ich bin aus dem Flugzeug ausgestiegen und sofort mit den Händen auf den Boden. Ich wollte die Erde berühren, die untrennbar mit mir verbunden ist.»

«Ist meine Geburtsurkunde echt?»

Gemeinsam mit einem lokalen Guide unternimmt sie Nachforschungen zu ihrer Herkunft. Sie schaltet ein Zeitungsinserat mit einem Baby-Foto von sich und dem Aufruf, dass sie nach ihrer biologischen Mutter suche. Sie geht ins ehemalige Kinderheim und aufs Zivilstandesamt.

Dort bekommt sie ihre Geburtsurkunde. «Damals war das unglaublich wertvoll. Endlich etwas in der Hand zu halten, das zu mir gehört. Mit dem heutigen Wissen aber bin ich skeptisch. Ist das Dokument echt? Stimmt der Name der biologischen Mutter?»

Mit dem heutigen Wissen, das heisst: mit dem Wissen um die systematischen Missbräuche bei Adoptionen aus Indien. Davon ahnte Jovita Bieler damals noch nichts.

Erst Jahre später beginnt sie, die Umstände ihrer Adoption kritisch zu hinterfragen. 2020 erscheint ein Bericht im Auftrag des Bundesrats zu Adoptionen aus Sri Lanka mit brisantem Inhalt. Er besagt, dass Babys aus Sri Lanka unter dubiosen und illegalen Rahmenbedingungen in die Schweiz gebracht wurden.

Indien ist nicht weit weg von Sri Lanka. Waren da die gleichen Machenschaften im Gang?
Autor: Jovita Bieler Wurde als Baby von einem Schweizer Ehepaar adoptiert

Betroffenen-Organisationen wie «Back to the Roots» weisen darauf hin, dass den biologischen Müttern die Babys teilweise gestohlen wurden. Manchen Müttern erzählte man, ihr Baby sei nach der Geburt gestorben. Als Beweis präsentierte man ihnen ein totes Kind aus dem Gefrierschrank.

«Back to the Roots»: Wie gelingt Herkunftssuche?

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«Back to the Roots» setzt sich für international adoptierte Personen in der Schweiz ein. Der Verein unterstützt und berät Menschen, die sich mit ihrer Adoptionsgeschichte auseinandersetzen wollen. Spezialisiert ist «Back to the Roots» auf Sri Lanka, der Verein unterstützt aber auch adoptierte Personen aus anderen Herkunftsländern.

«Nicht nur adoptierte Personen suchen nach ihren Wurzeln. Auch Mütter suchen nach ihren Kindern, die sie oft unter fragwürdigen Umständen weggeben mussten oder die ihnen gar weggenommen wurden», so Sarah Ineichen. Sie ist selbst adoptiert und Präsidentin des Vereins. «Viele Mütter in Sri Lanka sagen uns, sie wollen ihr Kind noch einmal im Arm halten, bevor sie sterben.»

Mit dem Projekt «Mother and Child Reunion in Sri Lanka» versucht «Back to the Roots» beide Seiten bei der Suche zu unterstützen. «Wir arbeiten unter anderem mit DNA-Tests. Wegen der gefälschten Dokumente ist das häufig die einzige Möglichkeit, etwas über die eigene Herkunft zu erfahren.» Doch die Chancen sind gering. «Bei der Herkunftssuche geht es letztlich darum, dass eine adoptierte Person sich frei mit ihrer Geschichte auseinandersetzen kann und dabei psychisch gesund bleibt oder Heilung erfährt.»

Das lebendige Kind wurde mit gefälschten Dokumenten zur internationalen Adoption freigegeben. Die Schweizer Behörden wussten von den Missständen, unternahmen aber nichts.

Als Jovita Bieler den Bericht zu Sri Lanka liest, wird ihr kalt im ganzen Körper. «Indien ist nicht weit weg von Sri Lanka. Waren da die gleichen Machenschaften im Gang?»

Schweizer Behörden haben versagt

Letzten Herbst ist nun die Studie zur Praxis bei Adoptionen aus Indien erschienen. Ein Forschungsteam untersuchte im Auftrag der Kantone Zürich und Thurgau 186 Adoptionsdossiers aus den Jahren 1973 bis 2002. Das Fazit kann man mit einem Wort zusammenfassen: Behördenversagen.

«In keinem der Fälle lag in der Schweiz eine Adoptions-Einwilligung von mindestens einem Elternteil vor», so Historikerin Sabine Bitter, die die Studie mitherausgegeben hat. Die Verzichtserklärung der Eltern war aber zwingende Voraussetzung für eine Adoption. Das Vorgehen der Schweizer Behörden war also gesetzeswidrig.

Das Kind als Ware

«Auch bei mir liegt keine Verzichtserklärung vor. Ich weiss nicht, ob meine biologische Mutter eingewilligt hat oder ob sie unter Druck gesetzt wurde», so Jovita Bieler. «Auf jeden Fall ist meine Adoption missbräuchlich vonstattengegangen.»

Die Studie fördert weitere Missstände zutage. So konnten Schweizer Adoptionsvermittlerinnen jahrelang ohne Bewilligung arbeiten, die Adoptivkinder wurden in Familien platziert, ohne dass diese genügend überprüft wurden. Auch dann nicht, wenn ein Ehepaar gleich mehrere Kinder adoptierte.

Zeichnung von Flugzeug, darin Storch, das Kind trägt.
Legende: Das Kind, das bringt der Storch – und das Flugzeug. So sah eine Geburtsanzeige für ein aus Indien adoptiertes Kind aus. Staatsarchiv des Kantons Bern

«Eine Familie beispielsweise hat innerhalb von neun Monaten vier indische Kinder adoptiert. Kinder im Alter von wenigen Monaten und neun Jahren. Da ist die Überforderung vorprogrammiert», so Sabine Bitter.

Die indischen Babys wurden teilweise wie Objekte behandelt. So konnten Schweizer Ehepaare manchmal aus Katalogen das gewünschte Kind aussuchen. Kinder wurden zudem bei zweifelhaftem Personal in Durchgangszentren während Wochen bereitgehalten für die Adoption.

Schicke Homestorys

Zu jener Zeit war es quasi en vogue, ein Kind aus dem Ausland zu adoptieren. Das zeigt sich auch in der damaligen Presse. In vielen Homestorys wurde der Umstand gefeiert, wie einfach es sei, aus Indien ein Kind zu adoptieren. Sie trugen Titel wie «Little India», oder «Ein Hauch von tausendundeiner Nacht».

Jovita Bieler findet klare Worte: «Es ist schmerzhaft, so angepriesen zu werden. Und es löst grosses Unverständnis aus, dass die Schweizer Behörden von den Missständen bei den Adoptionen wussten, den illegalen Machenschaften gar Vorschub leisteten.»

Schon damals gab es Stimmen, die warnten. Innerhalb von Schweizer Behörden und auch aus Indien. Nur: Die Behörden ignorierten diese Warnungen. Die irreguläre Praxis ging weiter, obwohl es sogar nachweisbare Fälle gab von Müttern, die getäuscht wurden.

Das Leid der Mütter

Die Mütter in Indien, die ihr Kind zur Adoption gaben, befanden sich häufig in einer Notsituation. Unverheiratet oder durch eine Vergewaltigung schwanger, drohte ihnen soziale Stigmatisierung.

Viele dieser Frauen wandten sich an soziale Institutionen. Dort bekamen sie zwar Betreuung, mussten im Gegenzug aber das Kind zur Adoption freigeben. «Da kann man durchaus von Zwang sprechen», so Sabine Bitter.

Jovita Bieler vermutet, dass das in ihrem Fall ähnlich gewesen sein könnte. Im sogenannten «sozialen Rapport» des Caritas-Kinderheims in Goa findet sie Hinweise dafür. «Es steht, dass meine Mutter unverheiratet gewesen sei und nach Unterschlupf für sich und ihr Kind gesucht habe», so Jovita Bieler. «Für mich bedeutet das, dass sie nach Obhut suchte, aber mich nicht weggeben wollte.»

Denn im Bericht ist ebenfalls vermerkt: Die Mutter kümmere sich gut um alle Bedürfnisse ihrer Tochter. «Das wirft Fragen auf. Besonders auch, weil keine Verzichtserklärung vorliegt.»

Humanitär? Kolonial? Lukratives Geschäftsmodell?

Fehlende Dokumente, fragwürdige Schweizer Vermittlerinnen, ignorierte Warnungen. Warum haben die Schweizer Behörden weggeschaut?

Ein Hinweis dazu liefert eine Bemerkung der Ordensschwester Waldtraut, die sehr aktiv war in der Vermittlung von indischen Kindern und die in einen handfesten Skandal verwickelt war. In einer Aktennotiz ist festgehalten, dass sie nicht verstehe, «wie jemand so eine gute Sache in Frage stellen kann.»

Ordensschwester Waldtrauts «gute Sache» und die fatalen Folgen

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1992 steht Schwester Waldtraut vor einem Gericht in Indien und berichtet, sie habe im Kanton Schwyz Adoptiveltern für ein Findelkind gefunden. Unter Eid schwört sie, dass die biologischen Eltern unbekannt seien. Sie hätten das Kind ausgesetzt.

Dieses Ehrenwort reicht dem indischen Richter und dieses Ehrenwort reicht auch den Schweizer Behörden. Das Kind kommt zur Adoptivfamilie in die Schweiz.

Wenige Wochen später trifft in Bern ein Telegramm ein. Darin steht: Die leibliche Mutter sei weder unbekannt, noch habe sie ihr Kind weggeben wollen. Im Gegenteil. Sie fordere ihr Kind zurück.

«Die biologische Mutter wurde also betrogen, von wem wissen wir nicht», so Sabine Bitter.

Das Kind musste zurückgegeben werden. «Die Adoptiveltern willigten nur unter der Bedingung ein, wenn ‹ein gleichwertiger Ersatz in ihrem Wohnzimmer stünde› und einer, der gesundheitlich ‹einwandfrei› sei», zitiert die Historikerin aus den damaligen Akten. «Schliesslich hätten sie die 20'000 Franken bereits bezahlt.»

Brisant: Schwester Waldtraut durfte weitervermitteln. Ebenfalls der Vertrauensanwalt der Schweizer Botschaft, der alles rechtlich eingefädelt hatte.

Damals bestand in westlichen Industrieländern gesellschaftlicher Konsens, dass man mit einer Adoption Kinder aus der Armut rette, ihnen eine bessere Zukunft ermögliche. Humanitäre Absichten, die durchaus zutreffen können.

Plakat mit Bild von Mutter Theresa, die ein Baby auf dem Arm hält, Schriftzug «Missionaries of Charity»
Legende: Vorbild in der humanitären Arbeit: Mutter Theresa setzte sich für die Adoptionen aus Indien in die Schweiz ein. Andrea Abraham

Nur haben sich dabei viele Beteiligte über geltendes Gesetz hinweggesetzt. Und auch über das Wohl der biologischen Mütter und jenes der Kinder. «Bei diesen Kindertransfers über tausende von Kilometern waren die Babys häufig wochenlang, gar monatelang ungenügend betreut. Es waren Zustände, die prädestiniert dafür sind, psychische Schäden, Traumatisierungen zurückzulassen», so Historikerin Sabine Bitter.

Mit mangelhaften oder gefälschten Dokumenten ist die Herkunftssuche praktisch unmöglich.
Autor: Jovita Bieler Wurde als Baby von einem Schweizer Ehepaar adoptiert

So lässt sich das Verhalten vieler Beteiligter und das Wegschauen der Behörden auch anders deuten: Sie verharrten in einem kolonialistischen Denken. Der Kinderwunsch einer Schweizerin zählt mehr als das reproduktive Recht indischer Mütter. Man darf sich bedienen an indischem Leben, darüber verfügen.

Nüchtern betrachtet: Die Adoptionsvermittlung war auch ein Geschäftsmodell, bei dem mehrere Parteien profitieren konnten. Nicht zuletzt Hilfswerke. Die Gründe, warum während Jahrzehnten Unrecht geschah, sind vielfältig und sie müssen kein Widerspruch sein.

«I’m fine, Mom»

Jovita Bieler hat in der Zwischenzeit alle Unterlagen zu ihrer Adoption vom Kanton Zürich erhalten. Es waren nur wenige. Die Behörden haben damals die Akten bei den Vermittlungsstellen nicht vorschriftsgemäss eingefordert oder in der Zwischenzeit vernichtet.

In Goa ist ein Gerichtsverfahren hängig, da geht es ebenfalls um Akteneinsicht. Jovita Bieler weiss, dass die Chancen gering sind, ihre biologische Mutter zu finden. «Die Zeit läuft gegen uns. Und mit mangelhaften oder gefälschten Dokumenten ist die Herkunftssuche praktisch unmöglich.»

Bild von Jovita Bieler, sie steht vor einer Holzwand und schaut auf eine Rebberg-Landschaft
Legende: «Man braucht professionelle Unterstützung, denn man kann tief fallen.» Jovita Bieler verweist auf die wichtige Unterstützung der NGO «Back to the Roots», welche sich für international adoptierte Menschen in der Schweiz einsetzt. SRF/Gian Vaitl

Als nächsten Schritt plant sie eine weitere Reise nach Goa. Jovita Bieler will von Dorf zu Dorf gehen, mit Zeitzeugen sprechen. «Ich mache mein Lebensglück nicht davon abhängig, meine biologische Mutter zu finden. Die Auseinandersetzung an sich hat mir geholfen, zu mir selbst zu finden», sagt sie. Es lohne sich, aber es sei schmerzhaft.

Seit Jovita Bieler selbst Mutter ist, denkt sie nochmals intensiver an ihre biologische Mutter. «Es muss unvorstellbar schmerzhaft sein, ein Kind wegzugeben.» Wahrscheinlich wird ihre biologische Mutter sterben, ohne je zu erfahren, wie es ihrem Kind ergangen ist. «Ich würde ihr einfach gerne sagen ‹Hey, I’m fine. Und du bist Grossmutter von zwei Kindern›.»

Buchhinweis

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Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring (Hg.): «Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002». Chronos Verlag, 2024.

Transparenzhinweis

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Co-Autorin der im Beitrag thematisierten Studie über Adoptionen aus Indien ist Sabine Bitter, welche neben ihrer Tätigkeit als freie Historikerin auch als Redaktorin für Kunst & Zeitfragen bei SRF arbeitet.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 7.2.2025, 9:03 Uhr.

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