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Journalismus in Russland «Die Realität sieht nicht so finster aus»

Zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum hat sich ein Festival der geschriebenen Reportage gewidmet. 60 Reporterinnen und Reporter aus aller Welt präsentierten vergangenes Wochenende ihre Geschichten in einem Wettbewerb in Bern.

Der 1. Preis ging an den russischen Journalisten Shura Burtin für seine Reportage über den Menschenrechtsaktivisten Oyub Titiyev in Tschetschenien. Dass Shura Burtin den Preis bekommen hat, ist unter anderem Mikhail Ratgauz zu verdanken. Der russische Journalist war Jurymitglied am Festival. Im Gespräch erklärt er, welche Themen die russische Reportage dominieren.

Mikhail Ratgauz

Journalist

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Mikhail Ratgauz ist stellvertretender Chefredakteur des Online Magazins Colta.ru . und leitet zudem das Ressort Gesellschaft. Die Redakteure haben laut Ratgauz «einen Freiraum, ihre Politik zu treiben.» Seit sechs Jahren funktioniert Colta.ru. crowdfinanziert.

SRF: Wie ist die Situation für Journalisten in Russland?

Michail Ratgauz: Ökonomisch gesehen gleich schwierig wie im Westen. Die politische Situation für mich als unabhängigen Journalisten ist aber eine andere: Die Medien werden kontrolliert von der Zensurbehörde Roskomnadzor.

Seit 2000 wurden Fernsehsender vom Staat übernommen. Der erste Sender, dem das so erging, war NTW. Heute ist er einer der schärfsten staatlichen Propagandasender.

In den letzten neun Jahren wurden wichtige Print- und Onlinemedien übernommen und Gesetze erlassen: Man darf über Themen wie Suizid, Drogen, Homosexualität nur begrenzt berichten.

In der Realität sieht es allerdings nicht so finster aus. Das hat mit den unterschiedlichen Strömungen im Kreml zu tun. Da gibt es die Partei der Geheimdienste und des Militärs. Die unterstützen den radikalen Kurs: nach innen durchgreifen, nach aussen abschotten.

Die anderen stehen für Kooperation. Putin kann sich nicht dazu entscheiden, aus Russland ein Nordkorea zu machen.

Putin ist innerhalb des Kremls vergleichsweise liberal?

Ja klar, im Vergleich zu denen, die sich abschotten wollen. Die Situation in Russland ist divers. Es gibt unabhängige Medien, aber mit der Angst vor Repression. Die ist nicht immer präsent, bei heissen Themen jedoch schon.

Ein Beispiel: Die Anwesenheit russischen Militärs in der Ukraine war ein Staatsgeheimnis. Zu diesem Thema bekam ich die Kolumne eines Kollegen. Er schrieb, russische Soldaten seien in der Ostukraine getötet worden und würden heimlich in Russland beerdigt.

Ich verbrachte eine unruhige Nacht und entschied dann: Wir publizieren. Als erste. Am selben Tag publizierte eine kleine Zeitung aus Pskow das gleiche. Das war eine politische Heldentat. Erst danach kamen grössere Medien.

Im Westen denkt man, nur Pressefreiheit gewähre gute Presse. Was sagen Sie?

Ich sehe keinen Unterschied zwischen guter Journalistik im Westen und in Russland. Die Standards sind dieselben.

Woher kommen denn unsere Annahmen?

Sie haben hier nur eine ungefähre Vorstellung von Russland. Die schärfsten Signale halten Sie für das ganze Bild.

Was sagen Sie zum Gegensatz «Propaganda in Russland – objektive Berichterstattung im Westen»?

Putins Propaganda funktioniert durch «Priming» und «Framing». «Priming» meint: Eine Information wird hervorgehoben, die andere weggeschoben. Beim «Framing» geht es um kulturelle Klischees, die bedient werden. Die sind manipulativ und gehen tiefer. Damit werden einseitige Images geprägt. Aber ich finde, so funktionieren Medien überall.

Welche Themen beschäftigen russische Journalisten und ihr Publikum?

Die Reportagen, die in Bern eingereicht wurden, zeigen das gut: Polizei- und rechtliche Willkür sind beispielsweise Themen des alternativen Medienunternehmens MediaZona. Sie berichten nur über Gefängnisse und Folter.

Reportagen Festival Bern

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Das Reportagen Festival Bern fand vom 30.8. bis 1.9.2019 statt. An 50 öffentlichen Veranstaltungen kamen Reporter und Reporterinnen aus der ganzen Welt zusammen.

Ein Höhepunkt war die Verleihung des True Story Awards für die beste Reportage. Der 1. Preis ging an den russischen Journalisten Shura Burtin für seine Reportage über den Menschenrechtsaktivisten Oyub Titiyev in Tschetschenien. Die Reportage in englischer Version: https://truestoryaward.org/story/63

Alle ausgezeichneten Reportagen sind hier auf Englisch zu lesen: https://truestoryaward.org/winners

Ansonsten wird über soziale Ungleichheit berichtet, zum Beispiel über Kredite, die Menschen aufnehmen, um ihre Hochzeit zu finanzieren und sie dann in den Bankrott treiben. Die Gewinner- Geschichte geht über einen Menschenrechtsaktivisten, der Menschen in Tschetschenien rettet.

Ein anderer Text handelt von einer Mutter, deren Sohn in Syrien getötet wurde. Er war inoffiziell da und bekommt kein ehrenvolles Begräbnis als Soldat.

Unser Alltag ist vielfältig und widersprüchlich. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Als Maus kann man sehr listig sein – oder sich totstellen.

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