Samstagabend, Helvetiaplatz in Zürich: Während sich an der Langstrasse langsam das Partyvolk versammelt, Gin und Tonic in der Hand, beginnt im Volkshaus eine etwas andere Party.
Der Saal ist in rotes Licht getaucht, auf Heizplatten ist zeremonieller Kakao warm gestellt, die Luft ist schwer vom Duft der Räucherstäbchen. Die rund 100 Menschen, die sich vor dem Volkshaus einfinden, kommen zu einer Kakao-Zeremonie mit anschliessendem Trance-Tanzen.
Tanzen ohne Alkohol
Die Schlange am Eingang wird lang und länger. Warum sie heute hier ist, frage ich eine der wartenden Frauen: «Ich tanze gerne und will etwas Neues ausprobieren», sagt Franziska (40) aus Affoltern am Albis.
Silvio (41) aus Gockhausen ergänzt: «Es ist ein ganz anderes Tanzen als in Clubs zum Beispiel, wo meist viel Alkohol im Spiel ist und ein Machogehabe vorherrscht. Hier geht es wirklich nur ums Tanzen. Das gefällt mir sehr.»
Beide, Franziska und Silvio, entsprechen nicht dem Esoterik-Klischee: Sie tragen keine Batik-Shirts, auch Engel-Amulette fehlen.
Musik für neue Zustände
Etwas spiritueller wird es drinnen: Die Türen schliessen sich, die Veranstalter weisen darauf hin, dass die nächsten zwei Stunden lang nicht gesprochen werden dürfe.
«Wir tauchen in Welten und Zustände ein, welche sich durch Worte von aussen leicht wieder auflösen können », sagt Beat Nydegger von «Somos Organicos». Die Band ist zugleich auch Veranstalterin dieser Zeremonie.
Aus den grossen Töpfen schenken Helferinnen und Helfer nun den hochdosierten, rohbelassenen Kakao in Pappbecher. Die Teilnehmer sitzen auf dem Boden. Man reicht sich den Becher weiter, schaut sich in die Augen, wartet, bis alle einen Becher in der Hand halten.
Ein bitterer Geschmack
Dann wird der Kakao mit einem «OM» – diesem Urlaut, aus dem hinduistischer Legende zufolge der Kosmos entstanden sein soll – begrüsst. Nun darf man das braune Gebräu trinken. Mit «heisser Schoggi» hat das wenig zu tun: keine Milch, kein Zucker, sehr dickflüssig. Die Wirkung von solch hochdosiertem Kakao: stimulierend und stimmungsaufhellend dank dem Inhaltsstoff Theobromin.
Beat Nydegger erklärt, was diese Zeremonie für sie als Veranstalter bedeutet: «Es geht uns um die Lebensfreude und darum, auf dem Weg dahin den Menschen einen Raum bieten zu können, in dem jeder seine Innenwelt, seine Erfahrungen erkunden und in einem gehaltenen Rahmen ausdrücken kann. Es geht darum, die Beziehung zu sich und zu seiner Umwelt zu klären, welche oft von unserer Vergangenheit geprägt ist.»
Atemtechniken, Augenbinden oder Kakao?
Seit zehn Jahren bereits veranstalten «Somos Organicos» dieses Tanzen in Trance. Kakao-Zeremonien bieten sie noch nicht so lange an: «Wir probieren immer mal wieder etwas Neues aus, haben auch schon mit Atemtechniken oder Augenbinden gearbeitet. Doch der Kakao überzeugt uns am meisten», sagt Schlagzeuger Damian Benedetti.
Der zeremonielle Kakao wirke als «Herzöffner» und könne höhere Bewusstseinszustände herbeiführen. «Es ist eine Unterstützung auf dieser Reise zu mehr Vertrauen ins Leben. Ja, das ist die spirituelle Komponente unserer Anlässe: Wir wollen zeigen, dass wir alle Gefühle haben, manchmal weinen müssen oder schreien. Doch deswegen stirbst du nicht, du gehst nicht kaputt daran. Im Gegenteil.»
Beat Nydegger fügt an: «Wir freuen uns sehr, Teil einer völlig neuen Tanzkultur, -gemeinschaft und -bewegung zu sein. Dass wir auf eine so berührende Weise mitwirken können. Im Tanz des Lebens wird das Leben zum Tanz. Dazu möchten wir die Menschen ermutigen.»
Spirituelle Bedürfnisse ausleben
Doch was ist es, was Menschen an einem Samstagabend hochdosierten Kakao aus Pappbechern trinken lässt, in fast heiligem Ernst? Dorothea Lüddeckens, Professorin für Religionswissenschaften, sagt: «Man will selbständig und auch selbstermächtigt seine spirituellen Bedürfnisse ausleben – und zwar so, dass sie für die jeweilige Lebenssituation stimmen und ohne sich gleich für zehn Jahre irgendwo zu verpflichten.»
Eine Kakao-Zeremonie passe da gut: «Ich kann teilnehmen und nach ein paar Stunden wieder gehen, ohne mich zu verpflichten.»
Tarot und Kristalle: Esoterik als Werkzeug
Esoterische Rituale seien auch eine Art Werkzeug, sagt Lüddeckens: «Menschen wollen selbst etwas für ihr Seelenheil tun und suchen sich individuell Werkzeuge dafür. Zum Beispiel Kristalle oder Tarotkarten.» Oder: eine Kakao-Zeremonie.
Dem Klischee zufolge sind es in erster Linie Frauen in einer Midlife-Crisis, die mit der Esoterik Sinn und Halt im Leben suchen. Doch zur Kakao-Tanz-Zeremonie versammeln sich auch ganz andere Menschen im Alter von Anfang 20 bis Ende 40.
Esoterik aus dem Online-Shop
Kristalle fürs Zuhause werden so selbstverständlich als Dekoartikel verkauft wie Zimmerpflanzen. Es gibt ganze Online-Shops, die sich einzig der spirituell-esoterischen Wohnungseinrichtung widmen. Steine, Statuen oder die Accessoires zum Ausräuchern der Wohnung sind heute schick und hip.
«Es gibt immer noch jene, die esoterische Praktiken aus eine Hippie-Tradition heraus praktizieren – quasi der Nachwuchs der ‹älteren Damen in Batikgewändern›», sagt Dorothea Lüddeckens. «Aber daneben gibt es heute auch Managerinnen, die im Aktenkoffer ihre Heilsteine mit sich tragen und das nicht als Widerspruch sehen.»
Wenn die Eigenverantwortung zu weit geht
Man nehme sich aus all den Angeboten und Möglichkeiten heraus, was gerade in die jeweilige Lebenssituation passe. Eine Gefahr sieht Dorothea Lüddeckens dann, wenn «man dem Individuum alle Verantwortung zuschiebt».
Wenn die Selbstverantwortung absurde Züge annimmt und man beispielsweise selbst für seine Heilung zuständig ist: «Es ist dann nicht mehr der Arbeitsplatz oder die Gesellschaft, die jemanden an Burn-out erkranken lassen, sondern der Manager ist selbst Schuld, dass er krank geworden ist.»
Das sei eine ähnliche Logik, wie man sie aus fundamentalistisch-religiösen Kreisen kenne: «Du glaubst nicht genug, sonst wärst du nicht krank geworden.»
Esoterik in der reformierten Kirche
Der Nachfrage nach einem selbstbestimmten Ausleben von spirituellen Bedürfnissen kommt aber nicht nur die Esoterik nach: Auch die traditionellen religiösen Angebote wie etwa die christlichen Kirchen reagieren darauf.
Ein Beispiel ist die evangelisch-reformierte Kirche Offener Sankt Jakob am Stauffacher in Zürich. Pfarrer Patrick Schwarzenbach organisiert Dinge wie eine Meditationsnacht in der Kirche oder Yoga-Gottesdienste.
«Für mich zeigt das eine Art erwachsene Esoterik», sagt er: «Da haben sich Praktiken aus ihrem ehemaligen Kontext herausgelöst und stehen nun für sich selber, was sie kompatibel macht mit anderen Dingen.»
Andere Dinge können etwa der reformierte Gottesdienst sein, aber auch die Meditation mit «Einhorn-Energien», ergänzt der Pfarrer.
Genau das mache diese neuen Formen von Esoterik so attraktiv, ist Dorothea Lüddeckens überzeugt: «Man kann bis heute nicht gleichzeitig Mitglied der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche sein. Aber ich kann sehr gut sowohl Yoga üben, als auch ab und an die Dienste einer Hellseherin in Anspruch nehmen und dazu noch Gottesdienste besuchen.»
Spiritualität ohne Verbindlichkeit
Das entspreche dem Zeitgeist: Vor allem junge, gut gebildete Menschen wollten sich nicht einer Sache, einer spirituellen Schule verbindlich zuordnen. Und: «Die meisten Menschen, die die esoterischen Angebote im Sankt Jakob besuchen, würden sich nicht als esoterisch bezeichnen», so Schwarzenbach.
Für ihn als Pfarrer sind esoterische Angebote kein Widerspruch zum klassisch-reformierten Gemeindeleben. Im Gegenteil: «Ich sehe das eher als wertvolle Ergänzung, eine weitere Möglichkeit, Spiritualität zu leben.»
Aber nur, wenn die Qualität stimme: «Es braucht zum Beispiel einen gewissen Grad an Reflexion und Kritikfähigkeit der Kursanbieter. Die Kirche soll nicht zu einem Ort werden, an dem beliebige Dinge angeboten werden können», sagt Patrick Schwarzenbach.
Wie eine Goa-Party ohne Drogen
Im Saal im Volkshaus sind die Kakao-Becher derweil ausgetrunken, die Band hat angefangen zu spielen, die Menschen tanzen. Es fühlt sich etwas an wie eine Goa-Party – minus die Drogen. Das Publikum bewegt sich ähnlich ausgelassen und frei. Es wird geweint, gesungen, gelacht und geschrien, geschwitzt. Manche sitzen einfach still am Boden, meditieren. Die zwei Stunden sind lang.
So erstaunt es mich nicht, dass Franziska am Schluss sagt: «Mir war zwischendurch auch langweilig.» Wie hat sie den Kakao gespürt? «Das ist schwierig, genau zu sagen. Ich fühle mich schon etwas fliegend, hatte auch ekstatische Momente beim Tanzen. Das kann aber auch einfach von der Musik kommen.»
«Das hat mich zu kribbelig gemacht»
Die Gesichter, die ich danach wieder im hellen Licht des Foyers sehe, sind weich, die Haare wild. Gilles (36) aus Zürich fühlt sich aufgekratzt vom Kakao: «Es ist mir schwergefallen, bei mir zu sein, was sonst nicht der Fall ist. In diesem Kontext mit Musik und Tanz hat mich das zu kribbelig gemacht.»
Genau um dieses Erleben und Selbsterfahren gehe es bei solchen Anlässen, sagt Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens: «Wir sehen, dass Menschen heute nicht eine Institution wollen, die ihnen die Welt für die nächsten 100 Jahre erklärt. Sie wollen eigene Entdeckungen und Erfahrungen machen – auch im Religiösen.»
Pfarrer Patrick Schwarzenbach beobachtet Ähnliches: «Ich höre immer seltener, dass jemand an dies oder jenes glaubt, sondern dass er oder sie diese oder jene Technik benutzt, um etwas zu spüren.»
Zurück in den Samstagabend
Den Tanzenden im Volkshaus, aber auch denen, die in Dorothea Lüddeckens Forschung oder Patrick Schwarzenbachs Kirche auftauchen, geht es also um das Gleiche: eine individuelle, übersinnliche oder spirituelle Erfahrung zu machen. Das Göttliche selbst und unmittelbar zu erfahren. Und zwar so, dass sie sich in den beruflichen Alltag integrieren lässt, zeitlich begrenzt und relativ niederschwellig.
Und so ziehen sich die Trance-Tanzenden wieder ihre Strassenschuhe an, tauschen die Pluderhose gegen Jeans und gehen hinaus in den Samstagabend.
Vielleicht spüren einige von ihnen noch die Wirkung des Kakao – und sei es bloss in der Form von Schlaflosigkeit.