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Ein junger Mann filmt sich mit einem Handy selbst. Hinter im ein Auto, neben dem ein verletzter Mann am Boden liegt.
Legende: In einem Kurzfilm macht Vlogger Tom das, was viele tun, wenn sie einen Unfall sehen: Sie filmen, statt dass sie helfen. Rode Kruis

Kampagne gegen Gaffer «Sie halten ihr Handy hoch wie bei einem Popkonzert»

In den Niederlanden läuft eine Anti-Gaffer-Kampagne, weil zu viele Menschen bei Unfällen filmen statt zu helfen.

Die Scham ist längst vorbei. Das könnte denken, wer in den Niederlanden an einer Unfallstelle vorbeifährt und all die Gaffer sieht, die hemmungslos auf dem Boden liegende Verletzte oder gar Tote filmen und fotografieren.

«Sie halten ihr Smartphone in die Höhe, als ob sie an einem Popkonzert stünden», beklagte sich kürzlich ein Polizist in der Zeitung «De Volkskrant».

Tatsächlich müssen sich Beamte hinter den Deichen fast tagtäglich mit Menschen auseinandersetzen, die das Elend von anderen filmen.

Dagegen wehrt sich nun das niederländische Rote Kreuz mit einem Kurzfilm . Darin zoomt ein Vlogger ohne zu zögern auf einen verletzten Radfahrer. Und hört erst auf, als er vehement zum Helfen aufgefordert wird.

«Ein Unglück ist weder ein Foto- noch ein Filmmoment» heisst es mahnend im Abspann des Kurzstreifens, der vor allem in den sozialen Medien zu sehen ist.

Erste Hilfe sei das Kerngeschäft der Hilfsorganisation, erläutert eine Sprecherin den Grund für das Engagement.

Als grösste Anbieterin von Erste-Hilfe-Kursen sei das Rote Kreuz an der Hilfsbereitschaft von so vielen Passanten wie möglich interessiert.

Anti-Gaffer-Kampagne

Um zu eruieren, wie gross der potentielle Einsatz von Passanten ist, führt die caritative Vereinigung alljährlich eine Umfrage durch.

Heuer hätten die Erhebungen gezeigt, dass sich mehr als 90 Prozent der Niederländer über das Filmen von Verletzten ärgerten. Deshalb hat das Rote Kreuz nun diese Anti-Gaffer-Kampagne ins Leben gerufen.

Wie nötig diese ist, zeigt sich nicht nur am Gros der unerwünschten Zaungäste, die bei Unglücken im Weg stehen.

Zu Fuss auf der Autobahn

Ordnungshüter berichten von Schaulustigen, die in ihrem Sensationshunger den Wagen abstellen und ein paar hundert Meter auf der Autobahn zurück zur Unfallstelle gehen, um ein Foto zu machen.

Solches Verhalten sei nicht nur völlig inakzeptabel, sondern auch höchst gefährlich, warnt die Polizei.

Perverser Hunger nach Likes

Selbstverständlich werden die aufsehenerregenden Bilder gleich auf Twitter, Facebook und Co. hochgeladen und eifrig geteilt. Wie pervers dieser Hunger nach Likes ist, zeigte sich im Fall eines 21-Jährigen Mannes, der via soziale Medien vom Unfalltod seiner Freundin erfuhr.

Viel dagegen tun kann die Polizei nicht. In den Niederlanden ist es – im Gegensatz zum Nachbarn Deutschland – nicht verboten, Verletzte zu fotografieren. Aber die Beamten können Gaffer büssen, wenn sie sie mit dem Handy am Steuer erwischen.

Stichsichere Weste für Hilfskräfte

Sie habe das Gefühl, dass immer mehr Verkehrsteilnehmende ihr Smartphone zückten, wenn sie einen Unfall sähen, sagt die Sprecherin der niederländischen Polizei. Aber, schränkt sie ein, es gebe dazu keine entsprechenden Zahlen.

Doch nicht nur Handyfilmer sind bei Unfällen hinter den Deichen eine Plage. Niederländische Hilfskräfte werden immer öfter mit pöbelnden Umstehenden konfrontiert.

Deshalb soll Ambulanz- und anderes Hilfspersonal nun mit stich- und kugelsicheren Westen ausgerüstet werden.

Handy-Gaffer in der Schweiz: Vier Fragen an Toprak Yerguz

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Toprak Yerguz ist Mediensprecher des Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons Basel-Stadt.

Menschen, die bei Unfällen filmen statt zu helfen: Kennen Schweizer Behörden dieses Problem auch?

Das kommt leider immer wieder vor bei Unfällen: Menschen zücken das Handy, posten das dann in den sozialen Kanälen oder schicken es an die Medien.

Wir beobachten, dass es Menschen mit dem Bedürnis gibt, solche Ereignisse festhalten zu wollen. Damit behindern sie zum Teil die Einsatzkräfte.

Das Phänomen der Gaffer gab es früher schon, das ist nichts Neues. Dass aber nicht mehr nur zugeschaut wird, sondern auch Fotos und Videos gemacht werden, ist problematisch – nicht nur aus naheliegenden Gründen der Persönlichkeitsrechte.

Welche Gründe meinen Sie?

Dass diese Menschen das Geschehen dann auch noch aus einer guten Perspektive sehen möchten. Wenn die Feuerwehr zum Beispiel einen Perimeter erstellt, der nicht betreten werden soll, gibt es Personen, die ihn trotzdem betreten, um einen besseren Winkel zu bekommen. Sie behindern dann den Einsatz.

Hat das Handy die Probleme, die Gaffer verursachen, also verschärft?

Dazu gibt es keine Statistik. Aber es wird manifester: Gaffer sind heute sichtbarer. Früher waren es einfach Menschen, die dastanden und irgendwann wieder gingen.

Mit dem Handy haben wir eine visuelle Bestätigung, dass es sich um Gaffer handelt. Für Einsatzkräfte ist das störend: Sie werden aufgenommen und schlimmstenfalls sogar behindert.

Werden Unfälle heute seltener gemeldet, weil erst mal fotografiert wird?

Das kann man so nicht sagen, dazu fehlt die Statistik. Es gibt immer noch viele Leute, die Vorfälle melden. Dafür sind wir sehr dankbar.

(huta)

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