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Gesellschaft & Religion Karikaturist Wolinski erinnerte die Menschen an ihr inneres Tier

Durch das Blutbad in der Redaktion des Satire-Magazins «Charlie Hebdo» hat Frankreich vier bedeutende Zeichner verloren. Georges Wolinski ist einer davon. Deftig und derb waren seine Karikaturen – und oft jenseits des guten Geschmacks. Doch Freiheit gab es für ihn nicht ohne verletzte Gefühle.

Sinn fürs Doppelbödige, Doppelzüngige, fürs Schizophrene, das hatte Georges Wolinski zweifellos. Eine seiner schönsten Bildgeschichten aus dem Büchlein «Georges le tueur» zeigt einen Mann, einen Voyeur, der aus seinem Fenster linst – mal hinter dem Vorhang hervor, mal auf einem Stuhl stehend. Er verrenkt sich den Hals, um den bestmöglichen Blick auf eine junge Frau zu ergattern. Diese enthüllt sich gerade im Nachbarhaus. Und als er sie dann in der letzten Zeichnung tatsächlich völlig nackt erspäht, meint er entrüstet: «Quelle Salope!» – was für eine Schlampe.

Eine verrückte Feder

Sondersendungen

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  • 10vor10 vom 07.01.2015 mit einem Schwerpunkt zum Anschlag.
  • 100 Sekunden Wissen zu «Charlie Hebdo» am 08.01.2015 um 6.20 Uhr auf Radio SRF 2 Kultur.
  • Meinungsfreiheit in Gefahr? Nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» am 08.01.2015 um 9.00 Uhr in der Sendung Kontext auf Radio SRF 2 Kultur.

«Ich zeichne nur, was ich sehe, was mich umgibt», sagte Wolinski einst. Und, mit der eigenen Lust auch sich selber nicht allzu ernst zu nehmen, prägte er den Satz: «Viele meinen, Wolinski sei verrückt. Denn er tut so, als sei er verrückt. Dabei ist er tatsächlich verrückt.»

Das Publikum führender französischer Gazetten durfte sich jahrzehntelang über seine Verrücktheiten, seine Zeichnungen amüsieren, ärgern und sich vor allem von ihnen anregen lassen. In der linksorienteren Zeitung «Nouvel Obs» und in der ebenfalls linken «Libération» wurde er ebenso gedruckt wie im bieder-bürgerlichen «Journal de Dimanche» oder im Hochglanzmagazin «Paris-Match».

Ungemein fleissig, ungemein vielfältig war er in der Themenwahl. Pflichtlektüre war er selbst für den früheren Präsidenten François Mitterrand, der Wolinski persönlich empfing. Und als Wolinski ihm seine Frau vorstellte, lachte Mitterand und sagte, er kenne sie doch längst aus den Karikaturen ihres Mannes.

Fein und ästhetisch? Nichts für Wolinski

Wer Wolinski begegnete, traf auf einen Mann mit blitzenden Augen hinter der runden Brille. Das schon früh spärliche Haar auf dem runden Kopf zeigte in alle Himmelsrichtungen, als symbolisierte es die schier unerschöpflichen Ideen und Einfälle, die aus diesem Schädel herauswollten.

Sendehinweis

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«Sternstunde Philosophie» befasst sich am Sonntag, 11. Januar um 11:00 Uhr in einer eigenen Sendung mit dem Anschlag auf «Charlie Hebdo». Zu Gast in der Sendung sind «Tages-Anzeiger»-Chefredaktor Res Strehle, der Philosoph Francis Cheneval und Marco Ratschiller, Chefredaktor Satiremagazin «Nebelspalter».

Wolinski leuchtete nicht nur in die plüschigen Salons der hohen Politik, sondern auch unter Bettdecken. Busen und Penisse gab es in seinen Zeichnungen zuhauf. Sein Strich war bis ins hohe Alter forsch, nicht fein und ästhetisch. Sein Humor oft deftig und derb. Aber: Jede und jeder erkannte unweigerlich sich selber und seine Zeitgenossen.

Tiere in Kleidern

Die Menschen sollten sich nicht so wichtig nehmen, meinte er einmal: «Ich werde nie vergessen, dass ich ein Tier in mir habe. Die Menschen machen alles, um zu vergessen, dass sie eigentlich Tiere in Kleidern sind. Ich vergesse das nicht.»

So milde Georges Wolinski mitunter wirkte, seine Lust an der Provokation war ungeheuer. Als Zeichner ohnehin, aber auch in seinen Äusserungen liess er sich keinen Maulkorb verpassen. Etwa wenn er über Politaktivisten herzog, auch über ihm nahestehende linke Parteien: «Die militanten Politiker sind alt, viele sind gar senil. Sie sind hässlich, haben weisses Haar und dicke Bäuche.»

Georges Wolinski zeichnet eine Karikatur an der Fête de l'Humanité.
Legende: «Nichts ist für die Arbeiterklasse zu schön»: Georges Wolinski an der Fête de l'Humanité in Paris. Wikimedia / Alvaro

Gegen den guten Geschmack – und Denkverbote

In vielem war er ein Pessimist. Er glaubte immer weniger daran, dass sich die Welt verbessern lässt, dass man die einzelnen Menschen verändern könne. Er war, wie er selbst über sich sagte, ein Phallokrat, ein Provokateur, der gegen den guten Geschmack verstiess. Aber eben auch – und völlig zu Recht – gegen Denkverbote. Einer, der für die Karikatur, für die Satire beanspruchte, dass sie auch Gefühle verletzen dürfe. Religiöse, politische und andere. Das müssten die Leute aushalten. Davon waren er und seine Mitstreiter überzeugt.

Um diese Freiheit durchzusetzen, hat Georges Wolinski nun den höchstmöglichen Preis bezahlt. Er bezahlte mit seinem Leben. Doch die intellektuelle Freiheit hat eben in einer Welt mit all ihren Bornierten und Fanatikern einen hohen Preis. Sie zu verteidigen ist ein Kampf mit Risiken und Nebenwirkungen. Doch ohne Charaktere wie Wolinski, die bereit sind, diesen Kampf zu führen, wäre der Preis für unsere Gesellschaft noch weitaus höher. Es wäre die Unfreiheit.

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