Jeden Montag um 9 Uhr ist im Schulzimmer von Primarlehrerin Conny Isenegger im aargauischen Würenlingen Klassenrat angesagt. Dann übernehmen die Schülerinnen und Schüler der Klasse 4c die Regie. Vorne an einem langen Tisch nehmen die vier «Vorsitzenden» Platz, ihnen gegenüber sitzen die übrigen Viertklässler im Halbkreis.
Die Kinder bestimmen
Die Lehrerin steht an ihrem Pult, hält sich aber im Hintergrund. Ratsleiterin Victoria bittet um Ruhe und eröffnet die Sitzung. «Positive Runde: 30 Sekunden», verkündet die Zehnjährige. Zum Aufwärmen sollen die Kinder in 30 Sekunden positive Erlebnisse der vergangenen Woche berichten.
Dann kommen sie zum Haupttraktandum. Es geht darum, den Schlussmorgen vor den Weihnachtsferien zu planen. In Vierergruppen setzen sich die Kinder zusammen und besprechen Ideen. Das Programm bestimmen sie – nicht die Lehrerin.
Klassenrat als politisches Übungsfeld
Der Klassenrat ist eine spezifische Form, um die sogenannte Partizipation der Schülerinnen und Schüler im Unterricht zu fördern. Kinder mitreden, sie mitbestimmen zu lassen – das ist ganz im Sinne der UNO-Kinderrechtskonvention (siehe Box), die in Artikel 12 und 13 festhält: «Das Kind hat das Recht auf freie Meinungsäusserung.»
Diesem Recht fühlt sich Lehrerin Conny Isenegger grundsätzlich verpflichtet. «Die Erwachsenenwelt bestimmt schon genug», sagt sie, «und im Klassenzimmer gibt es viele Wege, um Kinder teilhaben zu lassen.» Der Klassenrat zum Beispiel sei dazu da, den Kindern demokratische Spielregeln beizubringen. Er ist sozusagen ein politisches Übungsfeld.
Mitreden auch beim Schulstoff
Auch beim Schulstoff können die Kinder der Klasse 4c teilweise mitreden, «der Lehrplan lässt hier Spielraum», so Conny Isenegger. Etwa im Realien-Unterricht: Sollen zuerst die Planeten und dann die Kontinente drankommen – oder umgekehrt? Sollen Säugetiere anhand von Hunden oder von Schweinen behandelt, gruppenweise oder im Plenum erarbeitet werden?
«Partizipation heisst auch, Kindern immer wieder die Wahl zu lassen», sagt die routinierte Lehrerin. «Sie sollen auswählen aus Arbeitsblättern auf verschiedenen Niveaus, aus Lesestoff, der den individuellen Neigungen entspricht, wählen zwischen roten und grünen Matheblättern.»
Kinder, die entscheiden können, beklagen sich weniger, etwas machen zu müssen. Sondern sie fühlen sich im besten Sinne selbstwirksam.
Lehrpersonen stehen stark unter Druck
Allerdings wirken in den Klassenzimmern von Schweizer Schulen noch ganz andere, der Partizipation zuwiderlaufende Kräfte: Leistungsdruck zum Beispiel. Elke Hildebrandt ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, sie leitet ein Projekt zu Partizipation auf der Primarstufe.
«Die Situation ist sehr herausfordernd», sagt Hildebrandt. «Durch die Diskussionen rund um Pisa und andere Schulleistungsstudien stehen die Lehrpersonen sehr stark unter Druck, dass die Schüler und Schülerinnen Leistungen zeigen.»
Dieser Druck werde durch schulübergreifende Checks, Selektionsverfahren für die weiterführenden Schulen und andere Prüfungen noch verstärkt. «Das führt dann dazu, dass Lehrpersonen den ganzen Bereich von Partizipation und Partizipationsförderung eher hinten anstellen», so Elke Hildebrandt.
Für die Fachhochschul-Professorin stellt sich beim Thema Kinderrechte ganz grundsätzlich die Frage: Was ist Schule in einer demokratischen Gesellschaft? «Ist das eine Institution, die Kinder vor allem darauf vorbereitet, in der Wirtschaft zurechtzukommen, oder sollte sie nicht eher eine Demokratie im Kleinen sein?» Zwischen diesen beiden Polen werde die schulische Partizipationsförderung oft zerrieben.
Erwachsene müssen zuerst wollen
In der Schweiz gibt es zum Stellenwert der UNO-Kinderrechte an den Schulen oder zur Partizipation im Unterricht nur wenig Daten. Elke Hildebrandt hat in einer eigenen, kleinen Untersuchung an Schulen in der Nordwestschweiz festgestellt, dass für Lehrpersonen das Loslassen von Kontrolle gar nicht so einfach ist.
«Dass Kinder mitbestimmen, müssen Erwachsene erst einmal wollen – und lernen», lautet ihr Fazit. Hildebrandt sieht deshalb die Kantone in der Pflicht: Diese sollten die Schulen zu mehr Partizipationsförderung ermutigen, «auch über den gesetzgeberischen Weg.»
Dass sich Partizipation auszahlen kann, zeigt sich bei der Primarklasse 4c in Würenlingen. «Wir finden es toll, dass nicht nur die Lehrerin entscheidet, sondern dass wir bestimmte Dinge selber regeln können», sagen die neun- und zehnjährigen Kinder durchs Band.
Auch die Erfahrungen von Lehrerin Conny Isenegger sind gut: «Wo die Kinder mitbestimmt haben, da stehen sie dann ganz dahinter», sagt sie. Das sei durchaus nachhaltig: Diejenigen Kinder, die sich einbringen und merken, dass sie etwas verändern können, seien auch später in anderen Klassen und Kontexten motivierter.