«Rituale werden immer wichtiger», sagt der Pfarrer Andrea Marco Bianca aus Küsnacht (ZH). «Das merken wir auch daran, dass wir Konkurrenz von freien Ritualbegleitern bekommen». Viele wünschten sich persönlich gestaltete Feiern, wenn ein Mensch zur Welt kommt, heiratet oder die Welt verlässt.
Auch Pfarrerin Henriette Meyer-Patzelt aus Richterswil sagt: «Die meisten wissen gar nicht, dass wir Pfarrpersonen auch individuell gestaltete Rituale anbieten.» Nach einer Segnungsfeier für Paare höre sie öfters: «Wenn Kirche immer so wäre, würde ich öfters kommen.»
«Irgendwie glaube ich ja doch»
Rituale sind ein weites Feld. Da gibt es die klassischen Rituale, die eine lange Tradition haben. Meyer-Patzelt bietet aber auch Wanderungen in den Ruhestand an, Lichterfeiern, Jahresanfangsrituale, Segnungsabende.
Rituale ermöglichen es, etwas zu erfahren. «Glaube ist kein Fürwahrhalten biblischer Aussagen, sondern ein Prozess», sagt Bianca.
Wenn er persönliche Rituale gestaltet, in denen er Worte, Überzeugungen und Wünsche der Einzelnen aufgreift, höre er immer wieder: «Es war mir nicht bewusst, aber irgendwie glaube ich ja doch».
Kirchenordnung gelockert
Bianca und Meyer-Patzelt finden, dass Kirche den Menschen und ihren Bedürfnissen so nah wie möglich kommen sollte. Auch bei der Taufe, die eines der beiden Sakramente in der reformierten Kirche ist.
In Zürich hat sich das Stimmvolk für Taufen ausserhalb der Kirche ausgesprochen: Nach einer Abstimmung der reformierten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wurde die Zürcher Kirchenordnung gelockert.
Die sogenannte Teilrevision wurde mit 76 Prozent der Stimmen angenommen. Sie beinhaltet neben anderen Punkten, dass seit diesem Jahr Taufen auch im kleinen Kreis ausserhalb der Kirche möglich.
Vorher war die Anpassung des entsprechenden Artikels in der Kirchensynode – dem Parlament der Landeskirche – diskutiert worden.
«Nicht bloss eine Willkommensfeier»
Gegen diese Lockerung sprach sich Ivan Walther Tschudin aus. Der Pfarrer und Synodale findet, bei kleineren Ritualen dürfe experimentiert werden, doch die Taufe sei zu zentral. «Bei der Taufe wird ein Mensch in die christliche Gemeinschaft aufgenommen», sagt er. «Es ist nicht bloss eine Willkommensfeier.»
Die Gefahr sei nun, dass sie zweckentfremdet würde. Zur Taufe gehöre es, das Kind nach den Werten und im Glauben der christlichen Gemeinde aufzuziehen. Deshalb gehöre die Taufe in den Gottesdienst.
Kirche muss sich anpassen
Andrea Marco Bianca sieht die Sache anders. Er findet, nicht die Menschen müssten sich an die Kirche anpassen, sondern andersherum. «Es gibt etwas zu entdecken im Leben dieser Menschen, das es wert und würdig ist, rituell gefeiert zu werden.»
Die konkreten Erfahrungen der Einzelnen sollten als genauso wichtig erachtet werden wie das, was in der Bibel steht.
Verpasste Chance
Zwar sei es viel aufwändiger, sich für jede Ritualfeier intensiv vorzubereiten. Er versteht, dass einige Kolleginnen und Kollegen deshalb nicht begeistert von seinen Vorstössen sind. Und sinnliche, persönliche Rituale lägen auch nicht jedem.
Doch er findet, jede Gemeinde sollte eine Person haben, die auf Rituale spezialisiert ist. «Viele Menschen haben eine Sehnsucht danach, auch durch die Kirche mit Ritualen begleitet zu werden», sagt Henriette Meyer-Patzelt. Wenn sie diese Sehnsucht nicht ernst nehme, verspiele die Kirche ihre Chance, in der Gesellschaft noch relevant zu sein.