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Kleiderordnung an Schulen Mode-Professor: «Zerrissene Jeans sind natürlich Inszenierungen»

Geht es nach dem deutschen Elternbeirat, ist «lottrige, zerrissene oder freizügige Kleidung» an dortigen Schulen bald passé. Anlass für den Vorstoss war das Abaya-Verbot in Frankreichs Schulen .

Wie sinnvoll Kleiderordnungen sind, was ein «regelkonformes Outfit» ist – und ob junge Menschen mit Mode überhaupt provozieren wollen: Jörg Wiesel, Experte für Modedesign und Professor an der FHNW, klärt auf.

Jörg Wiesel

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Prof. Dr. Jörg Wiesel ist Professor am Institute of Contemporary Design der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW. Er leitet den Studiengang BA Modedesign.

SRF: Was ist «ordentliche» Kleidung?

Jörg Wiesel: Was ordentlich ist, wird durch unsere Gesellschaft, Politik, Kultur und Normen bestimmt, die wir immer wieder neu verhandeln. Auch durch die Schule. Schüler reihen sich ein, brechen aus oder wollen über Kleidung ein anderes Verhalten zeigen, als es Schule oder Gesellschaft von ihnen erwarten.

Zerrissene Jeans provozieren niemanden mehr. Man kann sie schon zerschlissen kaufen. Die Modeindustrie stellt sich offenbar etwas anderes vor als der Bundeselternrat. Woher stammen die verschiedenen Vorstellungen?

Das Thema ist in der Mode nicht neu: Um 1980 dekonstruierten japanische Designer die europäische Mode, indem sie diese intensiv analysierten, um dann zerrissene Kleidung auf den Laufsteg zu bringen. Sie wurden dafür oft kritisiert und als Schöpfer des «Hiroshima Look» bezeichnet. Dennoch fand es Anklang, da Mode oft ein Spiel zwischen Verhüllung und Enthüllung ist.

Man will anders sein, muss aber auch erkennen, dass die anderen das genauso wollen. Aus dieser Paradoxie komme ich modisch per Kleidung nicht heraus.

Mode ist für junge Menschen ein Experimentierfeld, das ihnen dabei hilft, ihre Identität zu finden. Darum geht es in der Schulzeit. Ein Elternrat verfügt nicht unbedingt über solch ein modisches Wissen und geht von einer anderen Norm aus.

Sie leiten den Studiengang «Fashion Design». Wie ordnen Sie das Streben der Jungen nach Abgrenzung ein?

Alle haben heutzutage Social-Media-Profile, auf denen es darum geht, ein persönliches Image zu präsentieren – dazu gehört auch Mode. Da sind mitunter auch grenzwertige Bilder dabei, diese sind aber bewusst gesteuert. Mode, Kleidung und das Abweichen von vermeintlichen Normen werden gezielt eingesetzt, um sich ein besonderes Profil zu geben.

mehrer Dutzend Schüler und Schülerinnen stehen in Schuluniform eng beieinander.
Legende: Tragen deutsche Schülerinnen und Schüler bald Uniformen wie die Kinder an indischen Schulen? AP Photo/Altaf Qadri

Gelten auf Social Media oder in der Freizeit andere Regeln als in der Schule?

Ja und nein. Es ist ambivalent und komplex. Social Media spielen zweifellos eine Rolle, da Mitschüler sich alle kennen – und die Bilder und Videos auf Tiktok natürlich auch. Das wird geteilt, auch nach der Schule. Schule und Freizeit überschneiden sich.

Dass Lehrer da keinen Einblick haben, ist okay. Denn Schule dient als Modell für soziale Integration – aber auch Desintegration.

Die Grenzen des ästhetischen Empfindens müssen junge Menschen selbst finden und austesten.

Besonders während der Pubertät geht es darum, seinen Platz in der Kultur und Gesellschaft zu suchen und zu finden. Hierbei spielt Mode eine grosse Rolle: Man will anders sein, muss aber auch erkennen, dass die anderen das genauso wollen. Aus dieser Paradoxie komme ich modisch per Kleidung aber nicht immer heraus.

Einige werden dann «extremer» und ziehen bauchfreie Tops oder zerrissene Jeans an. Das sind natürlich Inszenierungen, die auf Abweichung zielen, aber auch auf den Wunsch, in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

Wo ist für Sie bei der Kleidung die Grenze des Anstands im Unterricht überschritten?

Er ist da überschritten, wo Verhalten durch Kleidung an die Grenzen des ethischen und ästhetischen Empfindens der anderen stösst. Ob das Eltern sind oder die Mitschülerinnen und Mitschüler. Wo diese Grenze verläuft, muss ausgehandelt und diskutiert werden.

In einem Studiengang wie Modedesign sind wir per se sehr offen. Da gibt es keine Grenzen. Diese müssen junge Menschen selbst finden und austesten.

Das Gespräch führte Rachel Beroggi.

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Radio SRF 4 News, 20.9.2023, 6:20 Uhr ; 

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