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Interview mit Altersforscher François Höpflinger
Aus Kultur-Aktualität vom 26.06.2020.
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Kreativität im Alter «Alt ist man heute erst mit 85»

Die 80-jährige Autorin Helga Schubert gewinnt beim Wettlesen am Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Künstlerin Etel Adnan war bereits 85, als sie vor ein paar Jahren an die Documenta eingeladen wurde. Auch in der Wissenschaft gibt es Aufmerksamkeit und Auszeichnungen für ältere Menschen.

Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Immer mehr Ältere zählen sich nicht zu den Alten, meint der Altersforscher François Höpflinger.

François Höpflinger

François Höpflinger

Altersforscher

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François Höpflinger ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Zürich. Seit seiner Emeritierung forscht er am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich über das Alter als gesellschaftliche Herausforderung.

SRF: Gerät die Gesellschaft gerade zugunsten älterer Menschen in Bewegung?

François Höpflinger: Nein, das tut sie eher weniger. Aber man entdeckt in immer mehr Bereichen, dass das Alter gar keine so grosse Rolle spielt – weder für die Kreativität noch für die Lernfähigkeit.

Heisst das, dass sich der Blick auf das Alter verändert hat?

Nicht unbedingt. Was aber passiert: Immer mehr Ältere zählen sich nicht zu den Alten.

Was heisst das?

Alle Umfragen in Deutschland und der Schweiz zeigen, dass sich 70-jährige Menschen deutlich jünger einschätzen als sie es tatsächlich sind. In einer Erhebung vom Jahr 2018/19 haben sich nur gerade 15 Prozent der über 70-jährigen Befragten zu den Alten gezählt.

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Jugendlichkeit als positiver Wert in unserer Gesellschaft hat sich also durchgesetzt?

Nicht Jugendlichkeit, sondern jugendliche Lebenswerte. Man hat auch Daten ausgewertet, die zeigen, dass sich zum Beispiel in der Schweiz viele der 65- bis 75-Jährigen für genauso innovativ und kreativ halten wie 15- bis 24-Jährige. Dasselbe gilt auch für Österreich und Deutschland.

Nicht die Jugendlichkeit wurde also ausgedehnt. Vielmehr dehnen immer mehr Leute jugendliche Lebensstrategien bis ins höhere Lebensalter aus.

Heisst das, diese Leute empfinden sich selbst jugendlicher im Vergleich zu früheren Generationen?

Ja. Sie fühlen sich nicht den Alten zugehörig und sind beleidigt, wenn man sie als alte Menschen anspricht.

Welche Wirkung hat denn diese veränderte Wahrnehmung vom Alter auf jüngere Menschen?

Die negativen Bilder des Alters haben sich in den letzten 30 Jahren erstaunlicherweise nicht verändert. Es hat sich einfach alles nach oben verschoben. Alt ist man heute erst mit 80, 85 und nicht mit 65, 70.

Man hat einfach gemerkt, dass das chronologische Alter viel weniger wichtig ist, als man früher dachte. Und das gilt eben auch für kreative Bereiche. Auch mit 80 kann man moderne künstlerische und kreative Elemente in sein Schaffen einbauen. Das hat man früher nicht erwartet.

70-Jährige sind beleidigt, wenn man sie als Alte bezeichnet.

Was bedeutet diese Verschiebung für Werte wie Erfahrung oder Besonnenheit?

Es gibt Hinweise darauf, dass Besonnenheit und Gelassenheit steigen, je länger die Leute leben. Weil man schon einiges gesehen hat und sich nicht ständig aufregt. Aber Erfahrung ist nicht unbedingt ein Wert an sich, wenn sie nicht relativiert und reflektiert wird.

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Wenn alte Menschen über ihr Leben erzählen, finden junge Menschen das unter Umständen interessant, aber nicht unbedingt relevant. Zumal gerade ältere Kadermitarbeiter die Tendenz haben, den Wert ihrer Erfahrung zu überschätzen.

Wie gross ist die Vorbildfunktion der eingangs erwähnten Kulturschaffenden und Wissenschaftler für andere ältere Menschen?

Sie haben schon eine Vorbildfunktion – vor allem für Leute, die sich aktiv orientieren. Es ist erstaunlich, wie viele Leute im Rentenalter künstlerisch und kreativ tätig sind. Das hat in einem Ausmass zugenommen, das man früher nicht für möglich hielt.

Das Gespräch führte Alice Henkes.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 26.6.2020, 06:50 Uhr;

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