Der Krieg gegen die Ukraine wird auch in den Medien geführt. Worte wie «Invasion» oder «Angriff» sind für russische Medien verboten. Unabhängige Informationsquellen gebe es praktisch keine mehr im Land.
In einem offenen Brief wenden sich russische Autorinnen und Autoren an russischsprachige Menschen weltweit. Sie sollen ihre Freunde, Verwandten und Bekannten über die wahren Geschehnisse in der Ukraine informieren.
Für eine russische Gegenöffentlichkeit
Die Idee hinter dem Brief ist simpel: Je mehr Menschen in Russland von den wahren Geschehnissen in der Ukraine erfahren, umso grösser ist die Wahrscheinlichkeit des innerrussischen Widerstands gegen den Krieg.
Auch viele internationale Schriftstellerinnen und Schriftsteller unterstützen den Appell, so etwa der deutsche Autor Ilija Trojanow. Er ist überzeugt: Indem man die Mittel der Massenkommunikation nutze, könne man hunderttausende Menschen erreichen. «Man kann sich vorstellen, was das für eine kaum zu zensierende Gegenöffentlichkeit schafft.»
Der offene Brief trägt aber auch eine zweite, fast genauso wichtige Botschaft: Viele russische Kulturschaffende sind gegen diesen Krieg. Autorinnen und Autoren nehmen mutig eine kritische Position ein und rufen für eine russische Gegenöffentlichkeit weltweit zur Mithilfe auf.
Sinn und Unsinn von Boykott
Die weltweite Unterstützung lasse jedoch auf sich warten, stellt Trojanow fest. Statt gemeinsam im Dialog an einer kritischen Gegenöffentlichkeit in Russland zu arbeiten, boykottiere der Westen momentan vieles, was aus Russland kommt, zum Beispiel in der Literaturwelt: «Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk meinte, sie wird sich jetzt weigern, mit russischen Autoren oder Autorinnen ein öffentliches Gespräch zu führen.» Auch die ukrainische Schriftstellervereinigung PEN rief zu einem Boykott russischer Bücher und Kultur auf.
Bei solchen Boykott-Aufrufen würden unterschiedliche Dinge miteinander vermengt, kritisiert Trojanow: «Massnahmen gegen Oligarchen sind was völlig anderes als Massnahmen gegen Kulturschaffende. Das wird oft in einen Topf geworfen; Wirtschaft, Sport und Kultur. Als seien diese Sachen ebenbürtig – das sind sie nicht.»
Während Oligarchen das Regime mitverantworten und davon profitieren würden, sei Sport vor allem in Russland eine nationale Angelegenheit. Noch einmal anders sehe es in der Kultur aus: «Kultur ist vor allem in meinem Bereich, bei den Literaten, überwiegend eine private Angelegenheit.»
Pauschal verurteilt
Zwar gibt es in Russland auch viele Kulturschaffende, die zu Putin halten. Die Opernsängerin Anna Netrebko zum Beispiel tat sich schwer damit, sich klar vom Krieg in der Ukraine zu distanzieren und muss mit Sanktionen rechnen.
Die Pauschalverurteilung aller russischen Kulturschaffenden sei jedoch höchst problematisch, sagt Ilja Trojanow. «In solchen Zeiten werden dann automatisch Schablonen der Vereinfachung und der gegenseitigen Diffamierung wieder aufgewärmt. Das ist einfacher und entspricht auch einer gewissen überhitzten Emotionalität.»
Der offene Brief der russischen Autorinnen und Autoren ist in diesem Sinne auch ein Appell gegen diese überhitzte Emotionalität und den westlichen Boykott-Rundumschlag.