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Krieg in der Ukraine «Russland geht es nicht nur um die Ukraine»

Nach zwei Jahren hat sich die Wahrnehmung des Kriegs verschoben. Wie geht es weiter – und was steht für den Westen auf dem Spiel? Nato-Beraterin Florence Gaub und Osteuropa-Kenner Ulrich Schmid im Gespräch.

Eine Zeitenwende sei das, beurteilten viele den Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Andere Stimmen, vor allem in Osteuropa, warnten schon viel früher.

Bereits 2008 überfiel und besetzte Russland einen Teil von Georgien, 2014 folgten die Krim sowie Donezk und Luhansk. Die Folgen: Millionen Vertriebene, tausende Tote, zerstörte Städte, verminte Felder. Und Russland ist noch immer da.

Die russische Aggression sei auch ein Angriff auf westliche Werte, betonten europäische Politikerinnen und Staatschefs unlängst an der Münchner Sicherheitskonferenz, wie die Politologin und Nato-Beraterin Florence Gaub sagt. Doch die Wahrnehmung habe sich verschoben: «Vor einem Jahr dachte man noch, der Krieg betrifft uns nur indirekt. Jetzt bereitet man sich auf einen Angriff vor.»

Westen als dekadentes «Gayropa»

«Russland geht es nicht nur um die Ukraine. Das Land will die freiheitliche Gesellschaftsordnung in Europa herausfordern», pflichtet ihr Osteuropa-Kulturwissenschaftler Ulrich Schmid bei. Er rechnet nicht mit einem Angriff auf das Baltikum oder auf Polen. Es gehe Russland eher darum, Staaten wie Bosnien-Herzegowina oder die Moldau politisch zu destabilisieren.

Wir dachten, alle würden nun so werden wie wir: westlich und demokratisch.
Autor: Florence Gaub Politologin und Nato-Beraterin

«Russland verteidigt in Putins Sicht die wahren Werte des Abendlandes», so Schmid. Der Westen werde als dekadentes «Gayropa» verspottet. Platz für abweichende Meinungen gebe es nicht. Der Tod von Alexej Nawalny habe das einmal mehr bewiesen.

«Die Bolschewiki haben 1918 mitten im Bürgerkrieg die gesamte Zarenfamilie exekutiert, um den Monarchisten die letzte Hoffnung zu rauben, dass es jemals wieder eine Rückkehr zum Ancien Régime geben könnte», so Schmid. Die Hoffnung auf einen Wechsel und einen demokratischen Rechtsstaat wurden zunichte gemacht – damals wie heute. 

Ein Graffiti an der Wand, ein Mensch mit orangem Helm übermalt das Graffiti mit gelber Farbe.
Legende: Das Graffiti des inhaftierten russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny in St. Petersburg wird übermalt (April 2021). Die Worte an der Wand lauten «Held unserer Zeit». AP Photo / Ivan Petrov / Keystone

Was bedeutet das für die Ukraine? In den mit Kiew verbündeten Staaten des Westens machen sich Ernüchterung und Kriegsmüdigkeit breit. Laut einer Mitte Februar veröffentlichten Studie glauben nur 10 Prozent der Befragten, dass die Ukraine den Krieg noch gewinnen kann.

«Glauben Sie, im September 1941 war die Stimmung in den europäischen Hauptstädten besser, als es darum ging, Nazideutschland militärisch zu begegnen?», fragt Florence Gaub rhetorisch.

Starke Erzählung des demokratischen Lebens

Der Westen habe sicher Fehler gemacht, so Gaub. «Mit dem US-Autor Francis Fukuyama dachten wir, alle würden nun so werden wie wir: westlich und demokratisch.» Der Krieg in der Ukraine beweise das Gegenteil.

Die Ukraine könnte die BRD des 21. Jahrhunderts werden.
Autor: Ulrich Schmid Osteuropa-Kulturwissenschaftler

Doch die Ukraine könne ihn gewinnen. «Das Wichtigste im Krieg sind nicht die Geländegewinne oder die eroberten Gebiete, sondern das, was in den Köpfen geschieht», so Gaub. Die Aussicht, frei und demokratisch zu leben, sei noch immer eine starke Erzählung. Dies zeigten die vielen Millionen Menschen, die nach Europa gelangen wollen.

Teilung der Ukraine wie BRD und DDR

Schmid schiebt nach: «Die Ukraine könnte die BRD des 21. Jahrhunderts werden.» In diesem Szenario, entworfen von der US-amerikanischen Historikerin Mary Elise Sarotte, würde sich der freie Teil der Ukraine zu einer westlichen Demokratie entwickeln. Der besetzte Teil würde vorerst zu einer Art DDR.

In einem zweiten Schritt könnte die territoriale Integrität der Ukraine wieder hergestellt werden. Doch das dauere möglicherweise Jahrzehnte.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 25.02.2024, 11:00 Uhr.

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