Ein Mann sitzt am Klavier. Er spielt begnadet, aber nur mit der linken Hand. Mit der rechten ist er in Handschellen an einen Polizisten angekettet, der mit dem Rücken zum Publikum steht. Ein Inbild, eine Ikone des gegenwärtigen Russlands.
Es ist eine Szene aus «Barocco», dem neuen Stück von Regisseur Kirill Serebrennikow am Moskauer Gogol Center. Es ist ein fulminanter Bilderreigen über feudale Selbstgefälligkeit, über Unfreiheit und Volkserhebungen, über das Leben und den Tod.
Künstler als Wegbereiter öffentlichen Drucks
«Barocco» ist ein aufrüttelndes musikalisches Gesamtkunstwerk, das den politischen Widerstand der Studentenrevolten und des Prager Frühlings 1968 reflektiert. Die Verweise auf die politische Gegenwart in Russland sind dabei unverkennbar.
«Seien wir stark! Seien wir schön! Seien wir heiter!», heizen die Schauspieler das Publikum an. Ein Aufruf zu Mut und Mündigkeit. Kirill Serebrennikow hat das Stück geschrieben als er unter Hausarrest stand. Dem Regisseur wird in Russland die Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen.
«Barocco» lässt sich als Antwort der Kunst auf die Vorwürfe verstehen: Lasst Euch nicht kleinkriegen! Gebt nicht auf!
Angst vor Konformismus
Die Stimmung ist aufgeladen. Seit den Protesten gegen Manipulationen bei den Regionalwahlen erlebt Russland eine Welle der Repressionen.
Viele oppositionelle Demonstranten wurden zu drei bis vier Jahren Lagerhaft verurteilt. Das schüre Angst, sagt die Schriftstellerin Alissa Ganijewa, aber noch mehr Angst bereite ihr Passivität: «Inzwischen habe ich viel mehr Angst davor, nichts zu unternehmen. Dieser Konformismus und dieses schweigende Einverständnis – das sind Dinge, die mir Angst machen.»
An Schreiben sei zur Zeit nicht zu denken, zu viel Widersinn bei Gerichtsverhandlungen, zu viel Willkür seitens der Behörden, sagt Ganijewa: «Jetzt geht es darum, zu sagen: Das ist nicht wahr! Einen Unschuldigen zu inhaftieren ist niederträchtig!»
Jeden Freitag demonstriert Alissa Ganijewa mit Gleichgesinnten, darunter auch der Schriftsteller Lev Rubinstein vor der Administration des Präsidenten für die Freiheit der politischen Gefangenen. Emanzipation von den Zwängen autoritärer Herrschaft, die Selbstblockade aufheben – das ist ihr Triumph.
Kunst auf der Höhe der Zeit
Der Künstler Artem Loskutow indes arbeitet seit der Niederknüppelung der Proteste gegen manipulierte Stadtratswahlen in Moskau an einer neuen Serie des Action-Painting. «Es handelt sich um Gummistockkunst. Ich schlage mit einem Gummistock die Farben der russischen Nationalflagge auf die Leinwand. Weiss, blau, rot.»
Die Serie verkauft sich gut, der Erlös geht an die politischen Häftlinge, unter denen viele Studenten sind. Kunst auf der Höhe der Zeit. Sie ruft auf zu Solidarität, zu Unabhängigkeit und zur Freiheit.