«Suljettu» – das heisst «Geschlossen» auf Finnisch. Ein Schild mit dieser Aufschrift dominiert nicht nur am Grenzbahnhof von Vainikkala, sondern auch an den Läden im Ort. Hier, 250 Kilometer östlich der finnischen Hauptstadt Helsinki, passierten noch vor wenigen Jahren Millionen von Menschen und Tonnen von Gütern jährlich das wichtigste Tor zwischen der Europäischen Union und Russland.
«Wir hatten sehr grosse Pläne für Einkaufszentren und Feriendörfer», sagt Kimmo Jarva, der frühere Bürgermeister der Stadt Lappeenranta, auf deren Gemeindegebiet Vainikkala liegt: «Doch mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine hat sich alles verändert».
Es gibt noch Leben im Grenzgebiet
Für die Menschen der Region ist das nichts Neues: «Wir haben in unserer Geschichte so manche abrupten Umbrüche erlebt», sagt Sari Kaasinen. Die 58 Jahre alte Musikerin und Komponistin gehört zu den prominentesten zeitgenössischen Kulturschaffenden Kareliens, einer Region mit eigener Sprache im Osten Finnlands und Westen Russlands.
Einige Kilometer westlich von Vainikkala, an der internationalen Bahnstrecke Helsinki–St. Petersburg liegt der Ort Pulsa. Im Unterschied zu Vainikkala, wo es wegen der finnischen Grenzschliessung zu Russland bis auf ein paar Vertreter der Grenztruppen menschenleer ist, pulsiert hier, in Pulsa, das Leben. Auch wenn im Ort – von wo es früher einmal direkte Züge bis nach Paris gab – schon längst kein Zug mehr anhält.
Einen grossen Anteil daran, dass in Pulsa überhaupt wieder Leben herrscht, hat eine Schweizer Bauerntochter aus dem baselbieterischen Blauen im Laufental: Petra Karjalainen hat die gut 15 Immobilien umfassende Bahnhofssiedlung mitten im Wald vor zehn Jahren gekauft und in den letzten Jahren zu einer in ganz Karelien bekannten Institution ausgebaut.
Die Schweizer Karelierin
«Bei uns kann man nicht nur gut essen und trinken, sondern auch übernachten und Feste feiern», sagt die 63-Jährige, die vor bald 40 Jahren aus der Schweiz nach Karelien auswanderte. «Ich komme aus der Schweiz, aber heute ist Karelien meine Heimat», sagt Karjalainen, die ihren Nachnamen von ihrem zweiten Ehemann hat und der nichts anderes bedeutet als «Karelierin».
In diesen letzten vier Jahrzehnten hat die vierfache Mutter und Unternehmerin hautnah erlebt, was es heisst, an einer geopolitisch immer wieder bedeutsamen Grenze zu leben.
Seit Finnland 1917 die Unabhängigkeit von Russland erlangte, hat sich die internationale Grenze zwischen den beiden Ländern kriegsbedingt wiederholt verschoben. Millionen von Karelierinnen und Kareliern mussten aus diesem Grund ihre Städte und Dörfer verlassen.
Kultur, die Grenzen überwindet
«Doch zur Jahrtausendwende herrschte ein Tauwetter und wir konnten über die Grenze hinweg eng zusammenarbeiten», sagt Petra Karjalainen, die nach ihrer Ausbildung zur Handweberin schon bald die Geschäftsführung des karelischen Handwerkerverbandes übernommen hatte. Mit Initiativen und Projekten brachte sie hier vieles ins Rollen.
Zunächst lebte Petra Karjalainen fast 25 Jahre im Norden Kareliens, in der grössten Stadt der Region Joensuu mit knapp 80'000 Einwohnerinnen und Einwohnern. «Sie kam zu mir ins Büro und schlug vor, einen ganzen Stadtteil in ein Zentrum für karelisches Handwerk und Kultur umzuwandeln», erinnert sich der frühere Stadtpräsident von Joensuu, Juhani Meriläinen.
Schmunzelnd fügt er hinzu: «Ich sagte gleich Ja». Tatsächlich gelang es Petra Karjalainen in der Folge, solche Zentren, die auch für den Tourismus im Gebiet grosse Bedeutung erlangten, in der ganzen Region zu initiieren – auch im russischen Teil Kareliens.
Renaissance der karelischen Kultur
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Ende der Sowjetunion konnte Karelien nicht wiedervereinigt werden – auch, wenn dies Karelier-Organisationen in Finnland hofften und forderten. Gleichwohl löste die Entspannungsphase eine Renaissance der Sprache (Karelisch ist wie Finnisch eine finno-ugrische Sprache) und der kulturellen Identität Kareliens aus.
«Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist davon nicht mehr viel übriggeblieben», sagt die Musikerin Kaasinen, die mit der von ihr gegründeten karelischen Folkrock-Band «Värttinä» auch international Karriere machte. Ein Kennzeichen ihrer Musik ist der Einsatz 12-seitiger karelischer Instrumente, Kantelen genannt, und die Rezitation karelischer Erzählungen.
Dabei unterscheidet sich die karelische Mentalität, geprägt durch die vielen historischen Verwerfungen, von der zurückhaltenden finnischen durch ihre Neugier und Offenheit: «Wir wollen wissen, wer bei uns vorbeikommt und wie wir Freunde werden können», betont Kaasinen.
Träume und Pläne müssen sich in Karelien immer wieder den neuen Gegebenheiten anpassen: so auch Petra Karjalainens Vorhaben in dieser finnisch-russischen Grenzregion. Nach vielen Jahren im nordkarelischen Joensuu zog sie nach der Trennung von ihrem ersten Mann gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann, Lasse Karjalainen, nach Pulsa.
«Hier kann ich meine Talente ausleben»
Seit der Grenzschliessung ist es auch in Pulsa bis auf ein paar wenige Güterzüge, die pro Tag Finnland in Richtung Kasachstan verlassen, stiller und ruhiger: «Das kommt uns eigentlich entgegen, denn die Menschen suchen bei uns Ruhe, Naturnähe und die karelische Kultur», sagt Karjalainen.
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Bild 1 von 1. Der Kulturbahnhof in Pulsa umfasst mittlerweile mehr als nur die 1869 erbaute Zugstation – er ist zu einer kleinen Oase für Kunst und Erholung herangewachsen. Bildquelle: SRF/Bruno Kaufmann.
Mit der Übernahme des kleinen Bahnhofs in Pulsa hat sie sich einen Traum erfüllt: «Hier kann ich meine Talente voll ausleben». In den letzten Jahren hat sie neben einer lokalen Bäckerei auch eine Kaffeerösterei und eine kleine Glacéfabrik eröffnet. Die Produkte sind mittlerweile in ganz Karelien erhältlich.
Chancen für sanfteren Tourismus
«Petras Kulturbahnhof zeigt, dass es für Karelien auch trotz der angespannten geopolitischen Lage und der geschlossenen Grenze eine Zukunft gibt», sagt Katja Vehviläinen, die Direktorin von «GoSaimaa», des regionalen Fremdenverkehrsverbandes.
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Bild 1 von 5. Das schöne Land der Seen: Das nordosteuropäische Karelien liegt in einer scheinbar endlosen Taiga- und Tundralandschaft, die von einem dichten Netz von Seen und Flüssen durchzogen ist. Bildquelle: SRF/Bruno Kaufmann.
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Bild 2 von 5. Reich und urwüchsig: Die dichten Urwälder Kareliens zählen zu den Attraktionen der Region. In den Naturlandschaften ist unter anderem der Europäische Braunbär heimisch. Bildquelle: imago images/blickwinkel.
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Bild 3 von 5. Regional typisch: Prächtige Holzarchitektur, wie die Kirche des Heiligen Nikolaus in Joensuu, findet sich vielerorts. 1887 erbaut, finden sich in der Kirche Ikonen, die Ende der 1880er-Jahre in St. Petersburg hergestellt wurden. Bildquelle: imago images/Depositphotos.
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Bild 4 von 5. Quer durch Karelien: Finnland hat eine 1340 Kilometer lange Grenze mit Russland, die sich auch durch das karelische Gebiet zieht. 2023 hat Finnland alle Grenzübergänge an seiner Ostgrenze geschlossen. Bildquelle: Keystone/EPA/LAURI HEINO.
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Bild 5 von 5. Frostige Zeiten: In der Wintersaison liegen die Durchschnittstemperaturen in der Region an der nunmehr geschlossenen Grenze zu Russland bei unter –5 Grad Celsius. Bildquelle: SRF/Bruno Kaufmann.
Der Tourismus war, so Vehviläinen – die selbst aus dem russischen St. Petersburg stammt –, bis vor kurzem ganz auf den lukrativen russischen Markt ausgerichtet: «Zeitweise hatten wir alleine in Laapeenranta bis zu 5000 Tagesgäste aus Russland».
Das hatte Milliardeneinkünfte und viele Arbeitsplätze generiert, die nun wegfallen. Trotzdem ist auch die Touristikerin optimistisch: «Die neue Situation bietet auch Chancen für einen nachhaltigeren und sanfteren Tourismus.» Wie schon am Bahnhof in Pulsa hängt nun zunehmend in vielen jahrelange stillgelegten Kultureinrichtungen und Gaststätten im finnischen Karelien wieder das Schild «Avata» (Offen).