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Kulturbahnhof im Grenzgebiet Eine Schweizerin lebt ihren Traum – 30 Kilometer vor Putins Reich

Im waldreichen Norden Europas ist die Grenze zwischen Finnland und Russland wegen des Ukraine-Krieges geschlossen und trennt ein Volk und seine Kultur. Eine Schweizerin hält hier die Stellung – und hat ein Kunst- und Kulturparadies geschaffen.

«Suljettu» – das heisst «Geschlossen» auf Finnisch. Ein Schild mit dieser Aufschrift dominiert nicht nur am Grenzbahnhof von Vainikkala, sondern auch an den Läden im Ort. Hier, 250 Kilometer östlich der finnischen Hauptstadt Helsinki, passierten noch vor wenigen Jahren Millionen von Menschen und Tonnen von Gütern jährlich das wichtigste Tor zwischen der Europäischen Union und Russland.

Verschneiter Güterbahnhof mit mehreren Gleisen und Wolkenhimmel.
Legende: Grosse Ruhe: Nach Covid-Beschränkungen, internationalen Sanktionen und der Grenzschliessung zwischen Finnland und Russland geht es am Bahnhof des finnischen Grenzstädtchens Vainikkala beschaulich zu. SRF/Bruno Kaufmann

«Wir hatten sehr grosse Pläne für Einkaufszentren und Feriendörfer», sagt Kimmo Jarva, der frühere Bürgermeister der Stadt Lappeenranta, auf deren Gemeindegebiet Vainikkala liegt: «Doch mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine hat sich alles verändert».

Es gibt noch Leben im Grenzgebiet

Für die Menschen der Region ist das nichts Neues: «Wir haben in unserer Geschichte so manche abrupten Umbrüche erlebt», sagt Sari Kaasinen. Die 58 Jahre alte Musikerin und Komponistin gehört zu den prominentesten zeitgenössischen Kulturschaffenden Kareliens, einer Region mit eigener Sprache im Osten Finnlands und Westen Russlands.

Einige Kilometer westlich von Vainikkala, an der internationalen Bahnstrecke Helsinki–St. Petersburg liegt der Ort Pulsa. Im Unterschied zu Vainikkala, wo es wegen der finnischen Grenzschliessung zu Russland bis auf ein paar Vertreter der Grenztruppen menschenleer ist, pulsiert hier, in Pulsa, das Leben. Auch wenn im Ort – von wo es früher einmal direkte Züge bis nach Paris gab – schon längst kein Zug mehr anhält.

Zwei Menschen sitzen auf einer roten Bank vor einem weissen Holzgebäude.
Legende: Die Schweizerin Petra Karjalainen (rechts, neben dem Autor) hat der karelischen Siedlung Pulsa wieder Leben eingehaucht – mit Kultur, Kaffee und Glacé. SRF/Bruno Kaufmann

Einen grossen Anteil daran, dass in Pulsa überhaupt wieder Leben herrscht, hat eine Schweizer Bauerntochter aus dem baselbieterischen Blauen im Laufental: Petra Karjalainen hat die gut 15 Immobilien umfassende Bahnhofssiedlung mitten im Wald vor zehn Jahren gekauft und in den letzten Jahren zu einer in ganz Karelien bekannten Institution ausgebaut.

Die Schweizer Karelierin

«Bei uns kann man nicht nur gut essen und trinken, sondern auch übernachten und Feste feiern», sagt die 63-Jährige, die vor bald 40 Jahren aus der Schweiz nach Karelien auswanderte. «Ich komme aus der Schweiz, aber heute ist Karelien meine Heimat», sagt Karjalainen, die ihren Nachnamen von ihrem zweiten Ehemann hat und der nichts anderes bedeutet als «Karelierin».

In diesen letzten vier Jahrzehnten hat die vierfache Mutter und Unternehmerin hautnah erlebt, was es heisst, an einer geopolitisch immer wieder bedeutsamen Grenze zu leben.

Seit Finnland 1917 die Unabhängigkeit von Russland erlangte, hat sich die internationale Grenze zwischen den beiden Ländern kriegsbedingt wiederholt verschoben. Millionen von Karelierinnen und Kareliern mussten aus diesem Grund ihre Städte und Dörfer verlassen.

Kultur, die Grenzen überwindet

«Doch zur Jahrtausendwende herrschte ein Tauwetter und wir konnten über die Grenze hinweg eng zusammenarbeiten», sagt Petra Karjalainen, die nach ihrer Ausbildung zur Handweberin schon bald die Geschäftsführung des karelischen Handwerkerverbandes übernommen hatte. Mit Initiativen und Projekten brachte sie hier vieles ins Rollen.

Zunächst lebte Petra Karjalainen fast 25 Jahre im Norden Kareliens, in der grössten Stadt der Region Joensuu mit knapp 80'000 Einwohnerinnen und Einwohnern. «Sie kam zu mir ins Büro und schlug vor, einen ganzen Stadtteil in ein Zentrum für karelisches Handwerk und Kultur umzuwandeln», erinnert sich der frühere Stadtpräsident von Joensuu, Juhani Meriläinen.

Gelbes Gebäude mit 'Arts & Crafts', beleuchtetes Fahrrad davor im Schnee.
Legende: Der Stadtteil Taitokortteli in Joensuu hat sich der Förderung von Kunst und Handwerk verschrieben – und bietet ein vielfältiges Angebot von Boutiquen, Eventräumen und ein Café. Instagram/Taitokortteli

Schmunzelnd fügt er hinzu: «Ich sagte gleich Ja». Tatsächlich gelang es Petra Karjalainen in der Folge, solche Zentren, die auch für den Tourismus im Gebiet grosse Bedeutung erlangten, in der ganzen Region zu initiieren – auch im russischen Teil Kareliens.

Renaissance der karelischen Kultur

Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Ende der Sowjetunion konnte Karelien nicht wiedervereinigt werden – auch, wenn dies Karelier-Organisationen in Finnland hofften und forderten. Gleichwohl löste die Entspannungsphase eine Renaissance der Sprache (Karelisch ist wie Finnisch eine finno-ugrische Sprache) und der kulturellen Identität Kareliens aus.

«Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist davon nicht mehr viel übriggeblieben», sagt die Musikerin Kaasinen, die mit der von ihr gegründeten karelischen Folkrock-Band «Värttinä» auch international Karriere machte. Ein Kennzeichen ihrer Musik ist der Einsatz 12-seitiger karelischer Instrumente, Kantelen genannt, und die Rezitation karelischer Erzählungen.

Drei Frauen in traditionellen Kostümen auf der Bühne.
Legende: In der finnischen Band «Värttinä» singen fast nur Frauen, und zwar ausschliesslich im karelischen Dialekt des Finnischen. Die Instrumente werden jedoch fast immer von Männern gespielt. Getty Images/ullstein bild

Dabei unterscheidet sich die karelische Mentalität, geprägt durch die vielen historischen Verwerfungen, von der zurückhaltenden finnischen durch ihre Neugier und Offenheit: «Wir wollen wissen, wer bei uns vorbeikommt und wie wir Freunde werden können», betont Kaasinen.

Träume und Pläne müssen sich in Karelien immer wieder den neuen Gegebenheiten anpassen: so auch Petra Karjalainens Vorhaben in dieser finnisch-russischen Grenzregion. Nach vielen Jahren im nordkarelischen Joensuu zog sie nach der Trennung von ihrem ersten Mann gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann, Lasse Karjalainen, nach Pulsa.

«Hier kann ich meine Talente ausleben»

Seit der Grenzschliessung ist es auch in Pulsa bis auf ein paar wenige Güterzüge, die pro Tag Finnland in Richtung Kasachstan verlassen, stiller und ruhiger: «Das kommt uns eigentlich entgegen, denn die Menschen suchen bei uns Ruhe, Naturnähe und die karelische Kultur», sagt Karjalainen.

Mit der Übernahme des kleinen Bahnhofs in Pulsa hat sie sich einen Traum erfüllt: «Hier kann ich meine Talente voll ausleben». In den letzten Jahren hat sie neben einer lokalen Bäckerei auch eine Kaffeerösterei und eine kleine Glacéfabrik eröffnet. Die Produkte sind mittlerweile in ganz Karelien erhältlich.

Chancen für sanfteren Tourismus

«Petras Kulturbahnhof zeigt, dass es für Karelien auch trotz der angespannten geopolitischen Lage und der geschlossenen Grenze eine Zukunft gibt», sagt Katja Vehviläinen, die Direktorin von «GoSaimaa», des regionalen Fremdenverkehrsverbandes.

Der Tourismus war, so Vehviläinen – die selbst aus dem russischen St. Petersburg stammt –, bis vor kurzem ganz auf den lukrativen russischen Markt ausgerichtet: «Zeitweise hatten wir alleine in Laapeenranta bis zu 5000 Tagesgäste aus Russland».

Das hatte Milliardeneinkünfte und viele Arbeitsplätze generiert, die nun wegfallen. Trotzdem ist auch die Touristikerin optimistisch: «Die neue Situation bietet auch Chancen für einen nachhaltigeren und sanfteren Tourismus.» Wie schon am Bahnhof in Pulsa hängt nun zunehmend in vielen jahrelange stillgelegten Kultureinrichtungen und Gaststätten im finnischen Karelien wieder das Schild «Avata» (Offen).

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 20.5.2025, 9:03 Uhr;liea

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