1. Gemälde, die uns belügen
Bice Curiger, Kunsthistorikerin und Kuratorin
Von Picasso gibt es dieses Zitat: «Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lässt.» Seitdem setzen wir uns damit auseinander. René Magritte zum Beispiel entlarvt den Illusionismus der Malerei, also den Moment, wo jemand vor einem Bild sagt: «Das ist eine Pfeife.»
Es ist bestenfalls das Bild einer Pfeife. Der Illusionismus lügt also in Magrittes Verständnis, und das stellt er richtig in seinem Bild «Ceci n’est pas une pipe».
Der französische Künstler Bertrand Lavier antwortete dann auf Magritte in den 1980er-Jahren mit Werken, die zugleich ein Industrieprodukt waren - wie ein Feuerlöscher, ein Alfa Romeo, ein Klavier - aber auch ein objekthaftes Gemälde:
Denn Lavier hatte die Gegenstände mit dicken Pinselstrichen (die «Touche-Van-Gogh») realistisch und farbgetreu so übermalt, dass sie im Prinzip funktionstüchtig blieben. Er schuf somit nochmals Kunst durch doppelte Negation. Seine Werke sind weder ein reines Industrieprodukt noch reine Malerei.
2. Die Kunstfigur, die Fiktion zur Wirklichkeit macht
Patti Basler, Kabarettistin, Poetin und Satirikerin
Jessica Jurassicas Roman «Die verbotenste Frucht im Bundeshaus» ist zwar frei erfunden – doch viele hielten den Inhalt für wahr. Das finde ich spannend: Menschen halten etwas Gelogenes für die Wahrheit. Das erzählt viel über unsere Zeit der Fake News. Realsatire pur.
Niemand weiss, wer Jessica Jurassica ist. Eine Kunstfigur, die es nicht gibt, beschreibt also – unglaublich gut – Dinge, die nicht passiert sind.
Es ist eine Art Kitschroman über die Zeit des ersten Lockdowns. Er handelt davon, wie sich eine Journalistin in einen Bundesrat verliebt. Kurze Zeit später versuchte jemand, Bundesrat Berset mit intimen Details zu erpressen.
Das interessiert mich überhaupt nicht. Aber die künstlerische Verarbeitung, bevor die Wirklichkeit überhaupt in die Nähe der fiktionalen Erzählung kam, das interessiert mich.
3. Die Sängerin, die anderen ihre Stimme lieh
Andreas Müller-Crepon, Musikredaktor Radio SRF 2 Kultur
Wenn in Hollywood-Filmen gesungen wurde, dann waren oft gar nicht die Stars zu hören, sondern Marni Nixon . Sie war die wichtigste Singstimme in «My Fair Lady». Sie sang die Eliza Doolittle, nicht Audrey Hepburn. Das Gleiche gilt für Nathalie Wood in «West Side Story» oder Deborah Kerr in «The King And I».
Kerr wurde für einen Oscar nominiert, der Soundtrack kam in die Hitparade – Marni Nixon bekam 420 Dollar. Sie hatte eine Schweigeverpflichtung unterzeichnet und wurde mit keiner Silbe erwähnt. Die Stars sollten eben nicht nur fantastisch aussehen, sondern auch glockenrein singen können.
Marni Nixon, die klassische Konzertsängerin, konnte sich perfekt anpassen. Wenn Marilyn Monroe zwei Zeilen aus «Diamonds Are a Girl's Best Friend» nicht selbst sang, verdankte sie den kniffligen Spitzenton der unfehlbaren Kollegin, die im Dunkeln blieb.
4. Die historische Serie, die nach Höherem als der Wahrheit strebt
Philipp Tingler, Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker
Ich konsumiere mit Begeisterung «The Crown» auf Netflix. Und zwar ungeachtet der Tatsache, dass es angesichts der neuesten Staffel, die die 1980er-Jahre im Leben der britischen Königsfamilie (und der Nation) behandelt, kürzlich im Vereinigten Königreich eine öffentliche Debatte um die historischen Unwahrheiten dieser Serie gegeben hat.
Dabei plädierte eine Seite sogar für einen entsprechenden Warnhinweis . Doch bei «The Crown» geht es nicht um detailgetreue Geschichtsschreibung, sondern um Kunst. Die Kunst ist die Sphäre, in der nach Picasso die Lüge eine höhere Wahrheit befördert.
Die höhere Wahrheit ist bei «The Crown» das Mysterium der Monarchie einerseits und ihre Menschlichkeit andererseits. Sowie die ewige Spannung zwischen diesen beiden Marken.
5. Der Mann, der über lügende Männer singt
Eric Facon, Musikredaktor Radio SRF 2 Kultur
Ein kleines Meisterwerk im humorvollen Erzählen ist für mich der Song «All Men Are Liars» von Nick Lowe . Dass alle Männer Lügner seien, ist per se eine gute Grundannahme für einen Pop-Song.
Im Refrain heisst es:
All men are liars, their words ain't worth no more than worn out tires. Hey girls, bring rusty pliers to pull this tooth. All men are liars and that's the truth.
Ihre Worte seien also nicht mehr wert als ein alter Pneu, und das sei die Wahrheit. Das Wunderbarste an diesem Song ist, dass ihn ein Mann über Männer singt. Lügt der auch, wenn er das singt? Oder ist es die Wahrheit?
Der Brite Nick Lowe meint das, wie üblich im britischen Humor, mit einem Augenzwinkern.
6. Sachbücher über Drachenforschung und Einhornwissenschaft
Christine Lötscher, Professorin für Populäre Literaturen und Medien, Literatur- und Filmkritikerin
Besonders spannend finde ich einen anhaltenden Trend, den ich in der fantastischen Kinderliteratur seit längerem beobachte: Sachbücher, in denen sich Fakten und Fiktion mischen.
«Die Drachologie» etwa ist ein Buch über mythische Wesen, die so beschrieben werden, als ob es sie heute tatsächlich gäbe. Es wird so getan, als ob man sie erforschen könne. Das Buch schafft also eine Verbindung von fantastischer Welt und Wissenschaftlichkeit.
Oder die «Einhorn-Enzyklopädie» von Judith Drews: eine wissenschaftlich anmutende Sammlung von Fabelwesen. Sie setzt Fantasie und Forschergeist frei, entspricht dem magischen Denken von Kindern. Dabei gibt es ja gar keine Einhörner. Oder doch?
7. Die Theaterszene, die Trost spendet
Stefan Bachmann, Theaterregisseur und Intendant des Schauspiel Köln
Theater ist die Kunstform der Lüge. Alles ist Verstellung, Verkleidung, Illusion. Aber im täuschenden Spiel erreicht das Theater vielleicht die grösste Wahrhaftigkeit.
Der grösste Lügner ist für mich Peer Gynt im gleichnamigen Drama von Henrik Ibsen. Der erste Satz lautet: «Peer, du lügst». Das sagt die Mutter zu ihm, weil er ihr eine hanebüchene Geschichte serviert, von der sie sich dann aber vollständig verzaubern lässt.
Als sie später im Sterben liegt, erklärt Peer ihr armseliges Bett zum prunkvollen Schlitten und sich zum Kutscher. Im Spiel fährt er mit ihr zur Himmelspforte, wo schon Petrus und ein gedeckter Tisch auf sie warten. Es ist eine wunderschön aufgeladene Szene, eine poetische Form der Sterbehilfe.
Die Lüge als Fantasieproduktion: Nicht nur im Angesicht des Todes hat das etwas zutiefst Tröstendes.