Jiang Yilei beklagt sich über ihre eigene Unordentlichkeit, ihre vollgestopfte Wohnung. Sie macht sich über die neueste Diät ihrer Nachbarin lustig. Und sie regt sich über ihre nörgelnden Eltern auf.
Sie hat einen Pony, ist dezent geschminkt und hat zwei Katzen. Auch über die redet sie gerne. Besondere Talente hat sie keine. In ihren Videos singt sie und verrenkt sich auch mal, aber weder ist die 32-Jährige ein Gesangstalent, noch ist sie eine gute Schauspielerin.
Und dennoch: Unter dem Namen Papi Jiang ist sie eine der derzeit prominentesten Online-Stars Chinas. Sie zählt mehr als 44 Millionen Follower auf mehreren Plattformen im Internet, unter anderem ist sie auf YouTube präsent.
Einige ihrer Videos sind mehr als 200 Millionen Mal angeklickt worden. Ihr Motto: «Ich bin ein Mädchen mit Schönheit und Talent.» Sie bezeichnet sich selbst als «nahbar». Und sie ist erfolgreich. Ein Superstar in China.
Rumalbern und kassieren
Influencer gibt es in vielen Ländern. Leute, die vor laufender Kamera Schminktipps geben, Computerspiele vorstellen, über Gott und die Welt reden oder einfach nur herumalbern – und damit berühmt werden. Sie selbst bezeichnen sich als KOL, abgekürzt für Key Opinion Leader.
Die Konsumindustrie hat diese jungen Stars als Werbeträger für sich entdeckt und platziert über sie ihre Produkte. Doch in kaum einem anderen Land sind Influencer so weit verbreitet wie in China.
Zwar rekrutiert auch China seine Popstars in der Musikbranche, aus Filmen oder Talentshows im TV. In absoluten Zahlen ist das auch kein geringer Faktor. Die Volksrepublik ist inzwischen der zweitgrösste Filmmarkt der Welt. Was die Musikindustrie angeht, hat sich China in den letzten Jahren von Platz 25 unter die Top 10 vorgekämpft. Trotzdem können chinesische Film- und Musikstars, was ihre Popularität anbelangt, nicht mehr mithalten mit den Influencern im Web.
Reich durch Klicks
Wenn Web-Celebrities in ihren Videos etwa einen bestimmten Lippenstift oder ein Markenshirt tragen oder Beauty-Tipps geben, erreichen sie auf einen Schlag Millionen. Das schaffen Film- und Musikstars in so kurzer Zeit nicht. Über 750 Millionen Chinesen sind derzeit regelmässig online.
Rund 400 Millionen Nutzer schauen sich nach Angaben des Forschungshauses iResearch regelmässig Livestreams an, auf denen Influencer wie eben Papi Jiang sich regelmässig zeigen.
Reich werden sie damit auch: Für eines ihrer Videos, das 74 Millionen Mal angeklickt wurde, zahlte ihr eine chinesische E-Commerce-Plattform für Schönheitsprodukte umgerechnet über zwei Millionen Franken.
«Online gibt es einen völlig anderen Verbreitungsgrad als über traditionelle Medien», sagt Li Sheng. Der 23-Jährige sagt, er gehe auch mal ins Kino. Einen Fernseher oder ein Radio besitze er aber nicht. Auch er ist ein Influencer. Seine Videos und Blogeinträge handeln von Reisen mit dem Rucksack.
Mit rund 36’000 Followern auf Weibo, dem chinesischen Twitter-Pendant, ist Li Sheng zwar bei weitem nicht so bekannt wie Papi Jiang. Seine Fangemeinde aber wächst schnell. Finanziell könne er davon bereits leben. Was er mit den grossen Influencern gemein hat? «Wir sind sehr leidenschaftlich», antwortet er. Und: «Wir sind Privatleute und damit näher an den Leuten.»
Von oben gesteuerte Kultur
Chinesen hätten ein «völlig anderes Verständnis von Kultur», sagt Philipp Grefer. Überhaupt sei Populärkultur in China noch ein recht junges Phänomen. Der gebürtige Rheinländer kam 2007 das erste Mal nach Peking und lebt seit 2009 zwischen Berlin und der chinesischen Hauptstadt. Er ist Mitgründer des Musik-Labels «FakeMusicMedia».
Grefer hat mehreren Pekinger Bands zu Prominenz verholfen, unter anderem die seiner Partnerin Helen Feng, die mit Nova Heart auch in Deutschland und in der Schweiz schon mehrere Auftritte hatte. «Bis heute wird Kultur weitestgehend von oben gesteuert», sagt Grefer.
Das gehe zurück auf die Mao-Ära. Der kommunistische Diktator sorgte bis zu seinem Tod 1976 dafür, dass die Volksrepublik mehr als drei Jahrzehnte lang völlig von der Aussenwelt abgeschirmt war. Während dieser Zeit diente Kultur allein Propagandazwecken. Anders als im Westen habe es in China daher lange Zeit kaum von unten gewachsene Subkulturen gegeben, sagt Grefer.
Zensurbehörde auf Zack
Dieses Kulturverständnis wird heute zwar bei weitem nicht mehr so konsequent umgesetzt wie unter Mao in den 1960er- und 70er-Jahren. Die Behörden sind viel toleranter geworden. Kultur ist heute auch in China vielfältig. Doch passen der heutigen kommunistischen Führung gewisse Inhalte und Darstellungsformen nicht, schlagen die Zensurbehörden auch weiterhin zu.
Trotzdem, so Grefer, habe es selbst in China immer auch Freiräume von unten gewachsener Subkulturen gegeben, in denen sich Kultur abseits vom Staat entwickeln könne.
Verborgene Kritik
Ob Punk, Rock, Elektro, Rap oder Hip-Hop – all diese Szenen finden sich auch in Peking, Shanghai und den anderen grossen chinesischen Metropolen. Grefer meint: Kritik am politischen System finde, wenn, dann nur «zwischen den Zeilen» statt. Spricht eine Band zu offensichtlich gegen die Ideale der Partei, wird rasch die Zensur aktiv und schränkt sie ein, verbietet sie.
Seine Partnerin Helen Feng, die Sängerin der Pekinger Indie-Band Nova Heart, kann das bestätigen. Sie ist gebürtige Pekingerin, lebte einige Jahre in den USA und Kanada, und kehrte 2002 als Moderatorin für MTV China zurück nach Peking.
Später hatte sie eine Musiksendung beim chinesischen Staatssender CCTV. Bei beiden Sendern verlor sie nach einiger Zeit die Lust an dem damals in China vorherrschenden Mandopop – seichter und einfacher Pop, damals noch sehr stark geprägt aus Taiwan.
Regelmässig kam es zwar auch zu komplexeren Arrangements, hatte dennoch stets den Nerv des Mainstreams zu treffen. Und der lautet: Einfach und schnulzig. Die Inhalte sind meist geprägt von Herzschmerz-, Beziehungs- und Liebesgeschichten.
Helen Feng gründete die Indie-Rockband Ziyo, hatte ein Elektronik-Projekt, 2015 schliesslich ihr Debütalbum mit Nova Heart. Sie ist eine der wenigen Popmusikerinnen, die es geschafft haben, auch ausserhalb Chinas bekannt zu werden.
Denn tatsächlich: Das Regime versteht keinen Spass, wenn es um politische oder subversive Kunst geht. Der in den 1990er-Jahren bekannte chinesische Rockstar Cui Jian musste für seine zu regimekritischen Texte jahrelange Repressionen über sich ergehen lassen.
Kurze, kritische Karriere
An diesem Vorgehen hat sich bis heute nur wenig geändert. Zwar schwappen regelmässig die meisten Trends aus dem Westen auch nach China rüber. Doch früher oder später haben sie es mit der Staatsgewalt zu tun.
Der chinesische Streaming-Dienst iQiyi etwa hatte vor zwei Jahren die Talentshow «The Rap of China» ausgestrahlt. Rap und Hip-Hop wurde auch in der Volksrepublik immer populärer. Hip-Hopper wie die Higher Brothers aus Chengdu oder Battlerapper wie GAI erfreuten sich gerade unter Schülerinnen und Schülern in China grosser Beliebtheit. Doch bevor es richtig losging, war schon alles wieder vorbei.
Brave Rapper
Die zuständige Medienbehörde (SAPPRFT) erliess nur kurze Zeit nach der Ausstrahlung der ersten Folgen bereits Verhaltensregeln. Worte wie «Bitch» und «Motherfucker» durften nicht mehr gesagt werden, ebenso tabu sind Tätowierungen. Rapper GAI durfte im Staatsfernsehen sogar nicht mehr auftreten, seine Videoclips wurden von den meisten chinesischen Webseiten gelöscht.
So bleibt in der Musikszene in China nur derjenige erfolgreich, der seine Botschaften in blumige Metaphern verhüllt. Musiker wie etwa Cai Xukun von der Boygroup Nine Percent rappt gleich über Liebe und Alltag.
Dasselbe gilt auch für chinesische Schauspieler. Auch sie müssen sich an die Benimmregeln halten und machen sich strafbar, wenn deren Herz und Moral nicht im Einklang mit der Parteilinie sind. Das bekam Fan Bingbing zu spüren, bis vor zwei Jahren die bestbezahlte und populärste Schauspielerin Chinas überhaupt.
Begonnen hatte sie als Serienstar einer Soap auf Hunan TV, dem Fernsehsender der Provinz Hunan, der mit Alltagssoaps und Shows aber landesweit sehr beliebt ist. Sie spielte 2014 die Hauptrolle der Fernsehserie «The Empress of China», die bislang teuerste chinesische TV-Serie und schaffte es mit einer Nebenrolle bei X-Men auch nach Hollywood.
Doch am 1. Juli 2018 war sie plötzlich verschwunden. Ihr wurde Steuerhinterziehung vorgeworfen. Erst knapp drei Monate später meldete sie sich zu Wort. Über den chinesischen Kurzbotschaftendienst Sina Weibo bat sie um Vergebung und pries die Kommunistische Partei: «Ohne die gute Politik der Partei und des Staates und ohne die Liebe des Volkes gäbe es Fan Bingbing nicht.»
Zensiert wurde sie zwar nicht, aber sämtliche Berichte über sie. Erst als die Behörden nach drei Monaten offiziell zugaben, dass gegen sie ermittelt werde, erschienen in den Staatsmedien und den sozialen Netzwerken wieder Berichte über sie. Wo sie sich in den drei Monaten aufgehalten hatte, ist bis heute nicht bekannt.
Was die kommunistische Führung ihr aber deutlich machen wollte: Sie ist zwar ein international gefeierter Superstar und die reichste Schauspielerin Chinas. Ihren Einfluss stellt sie aber nicht über die Partei. Das war für sie eine Lektion. Seitdem wurde es ruhig um sie.
Comics, das «giftige Gras»
Wie sieht es mit Chinas Comic-Kultur aus, immerhin eine der grössten Comic-Kulturen der Welt? Mit japanischen Mangas fing es in den 1990er-Jahren in China an. Doch rasch kam die chinesische Regierung auf die Idee, Comics könnten ein Instrument sein, die Jugend schon früh zu indoktrinieren.
Die chinesische Regierung begann, gezielt Comics aus China zu fördern. Tatsächlich stiegen viele Leute in das Comic-Gewerbe der staatlich unterstützten Verlage ein. Japanische Mangas hingegen wurden als «giftiges Gras» bezeichnet. Sie verschwanden von den Büchertischen und fanden sich nur noch auf dem Schwarzmarkt.
Seit Xi Jinping 2013 Staats- und Parteichef wurde, haben die Kontrollen weiter zugenommen. Die Regierung bedient sich auch wieder roten Kampagnen. Anfang des Jahres lief eine siebenteilige Comic-Serie über das Leben des deutschen Philosophen Karl Marx. Seine Schriften sind in China offiziell Teil der Staatsideologie.
Ähnlich wie das Musikgeschäft, ist auch die chinesische Comic-Kultur brav, unpolitisch. Die derzeit beliebteste Serie auf der Comic-App Kuaicon heisst «Nimm sofort meinen Bruder weg». Die Handlung: Familie und Alltag.
Auch Influencer in China fallen der Zensur zuweilen zum Opfer. Der Livestreaming-Star Yang Kaili alias Li Ge etwa. Auf der Streaming-App Huya hatte die 21-Jährige zwischenzeitlich rund 44 Millionen Follower.
Im vergangenen Oktober sang sie in einer ihrer Shows die chinesische Nationalhymne. Dazu hatte sie einen Haarreif mit Hirschgeweih-Attrappen aus Stoff auf dem Kopf – und mit den Armen gestikulierte sie wild, als wolle sie einen Dirigenten nachmachen.
Die chinesischen Behörden fanden Yang Kailis Gesang nicht lustig. Sie wurde deswegen verhaftet und für fünf Tage ins Gefängnis gesteckt. Der Vorwurf: Verunglimpfung der chinesischen Nationalhymne.
Konsum statt Kritik
Wenn es Social-Media-Stars mit der Freizügigkeit übertreiben oder zu kritisch werden, beendet der autoritäre Staat auch ihre Karrieren. Diese Befürchtung hat Influencer Li Sheng mit seinen Inhalten nicht. «Was uns ausmacht: Wir bilden einfach den Alltag ab», sagt er. Und der sei in China derzeit vor allem eins: konsumorientiert.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 13.09.2019, 7:20 Uhr.