Man mag von Peter Sloterdijks politischen Einlassungen halten, was man will, ebenso wie von seinen Ausführungen zum weiblichen Orgasmus. Wenn ich aber seine Texte lese und ihm zuhöre, geschieht vor allem eines: Ich staune.
Da ist zunächst diese ungeheuerlich verführerische Sprachkunst, dann die geistesgeschichtliche Weitsicht und schliesslich die philosophisch geschulte Lust an unkonventionellen Denkbewegungen jenseits etablierter Disziplinen.
Fremder Blick auf die Welt
Manchmal werde ich den Verdacht nicht los, unter der Haut dieses älteren Herrn mit Lesebrille, Schnauz und wallendem Haar versteckt sich ein Ausserirdischer, so fremd ist sein Blick auf unsere Welt. Die Gedankengänge des an Nietzsche geschulten Provokateurs zwingen den Verstand immer wieder zu ungewöhnlichen Kunststücken und seltsamen Verrenkungen.
Schon damals, als ich während meines Philosophiestudiums heimlich in seinen Schriften stöberte – es war wohl die «Kritik der zynischen Vernunft» –, fühlte ich mich, als würde ich einen fernen Planeten betreten, überwuchert mit lauter seltsamen Gewächsen. Damals verstand ich kaum etwas.
Ansteckender Spieltrieb
Da war lediglich diese neblige Wucht, voll von Anspielungen, Bezügen, Metaphern und erfundenen Begriffen. Ganze Weltdeutungen, verpackt in einzelne Sätze. Woher weiss der Mann das alles? Nach welcher Methode geht er vor? Und: Kann man das nicht einfacher sagen?
Diese drei Fragen stelle ich mir auch heute noch beim Lesen von Sloterdijks Texten. Doch der Ärger des Anfangs ist verschwunden. Der Spieltrieb des Autors wirkt mittlerweile ansteckend. Die beabsichtigte «Erheiterungsarbeit» gelingt.
In Sloterdijks Sphären
Auch wenn der Karlsruher Philosoph sich oft und gerne in eigenen «Sphären» bewegt, ein Abstecher dorthin hilft so gut wie immer, um anschliessend mit einem spitzbübischeren Blick auf unsere Gegenwart zu blicken. Drei Beispiele seien kurz genannt.
In seinem zweibändigen Bestseller «Die Kritik der zynischen Vernunft» (1983) lernen wir, warum «die Zeiten der Naivität vorbei» sind und sich nach den «trotzigen Hoffnungen» eine «Schwunglosigkeit der Egoismen» breitmachte.
Das Werk ist «eine Suche nach der verlorenen Frechheit» im Kampf gegen den «Zynismus des Macht- und Profitwillens» von Individuen, die versuchen, «sich nur irgendwie durchzubringen».
Später, in seinem dreibändigen Werk «Sphären» (1998-2004), versucht Sloterdijk zu zeigen, dass wir Menschen von klein auf in Blasen leben – angefangen vom Uterus im Mutterleib, über die Familie, bis hin zu den sozialen Medien, in denen wir uns heute bewegen.
In seinem Buch «Du musst dein Leben ändern» (2009) untersucht er den Geist der Übung in allen erdenklichen Tätigkeiten, vom Sport bis zur religiösen Askese, und tastet nach den Gründen und Grenzen der Selbstoptimierung des Menschen. Alle drei Werke sind nach wie vor aktuell.
Geschenkte Denkmanöver
Nach anfänglichen Mühen mit Sloterdijks Texten bin ich heute dankbar für all die wuchtigen Formulierungen, die anregenden Denkmanöver, lehrreichen Abschweifungen und bissigen Seitenhiebe. So auch beim Lesen seines neuesten Buches «Nach Gott» (2017), einer Sammlung von Vorträgen und kürzeren Texten.
Auch da begegne ich wieder kühnen Verbindungen, ausnahmsweise nicht zwischen den Bereichen Natur und Kultur, sondern zwischen Technologie und Theologie, etwa wenn der Autor rhetorisch fragt: «Wollte Gott, nach christlicher Grundlehre, Mensch werden, dürfte jemand sich wundern, dass der Mensch, seiner noblen Herkunft von einem Macher gewiss, zweite Maschine werden will?»
Solche Sätze muss man zweimal lesen, mindestens. Will er sagen, dass technofreundliche Möchtegern-Cyborgs eigentlich so sein wollen wie der christliche Gott, nämlich Geschöpf? Eine steile Hypothese, im Vorbeigehen hingeworfen.
Ob sie stimmt? Welche Wissenschaft könnte eine solche These belegen? Ich weiss es nicht. Aber ich bin froh, dass es Philosophen gibt, die solche Fragen stellen, auch mal provozieren und da und dort vielleicht daneben greifen.
«Du musst dein Leben ändern»
Friedrich Nietzsche hat einmal über sich selbst geschrieben: «Es ist durchaus nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir.»
Mit Peter Sloterdijk halte ich es ähnlich. Heute wird er 70. Das scheint mir ein willkommener Anlass für eine geistige Turnübung. Schliesslich ist der Mensch das Tier, das übt. Darum meine Leseempfehlung: «Du musst dein Leben ändern».