Ein Rabbi ersteht ein silbernes Kästchen, in dem ein Frosch haust. Er füttert ihn so lange, bis der Frosch alles verzehrt hat, was der Rabbi besitzt. Da gewährt ihm der Frosch einen Wunsch: «Ich begehre weiter nichts von dir, bloss, dass du mich die ganze Torah lehrst.»
Wären da nicht die jüdischen Begriffe – die Geschichte könnte glatt als Grimm’sches Märchen durchgehen. Es ist eine der jüdischen Legenden, die der jüdische Gelehrte Louis Ginzberg (1873-1953) gesammelt hat. Diese sind nun unter dem Titel «Legenden der Juden» erstmals auf Deutsch erschienen.
Biblische Superhelden
Darin entpuppt sich Moses als grosser Magier und Salomon als Dämonenbezwinger. Und David ist zwar immer noch unerschrocken, Goliath besiegt er allerdings nur dank übernatürlicher Hilfe. Wäre das Alte Testament ein Spielfilm, so wären die jüdischen Legenden wohl die Fantasyserie dazu.
Diese Legenden stellen unser Verständnis des Alten Testaments gehörig auf den Kopf. «Die jüdische Legendenliteratur, die Aggada, ist durchaus rebellisch», sagt Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Er hat die «Legenden der Juden» gemeinsam mit Joanna Nowotny erstmals auf Deutsch herausgegeben.
Gott und seine Helfer
«Die Legendenliteratur stellt nämlich Aspekte in den Vordergrund, die in der Bibel entweder ausgeblendet oder sogar negativ erwähnt sind», erklärt er. «Zum Beispiel die Astrologie – denn dies würde ja bedeuten, dass es neben Gott noch andere Mächte gibt, die unser Schicksal bestimmen.»
Das andere, was die Bibel ausblendet, sei die Magie und das magische Denken. In den jüdischen Legenden gebe es tatsächlich weitere solcher Mächte, erklärt Andreas Kilcher: «Gott hat eine Vielzahl von Agenten: Engel, Sterne, Dämonen.» Sie alle hätten ihren Platz im grossen göttlichen Plan. Gott bleibe zwar der Chef. «Aber keiner, der nicht zulassen würde, dass in seinem Haus sehr viel passiert.»
Jüdischer Bruder Grimm
Gesammelt hat die Legenden Louis Ginzberg, ein jüdischer Gelehrter aus dem russischen Zarenreich. Er ist eine Art jüdischer Bruder Grimm. Anders als die Gebrüder Grimm hat er die Legenden jedoch nicht mündlich bei der Bevölkerung gesammelt. Vielmehr hat er akribisch alles zusammengetragen, was er in Bibliotheken, Archiven und bei Gelehrten finden konnte. Aus diesen Mosaiksteinen hat er dann die Geschichten konstruiert, sie neu erzählt.
Dabei bewies er literarische Qualitäten. Er arbeitete mit Motiven, Symbolik und Wiederholungen und setzte dramaturgisch geschickte Erzählbögen. Ginzberg war offensichtlich in der Literatur der europäischen Volksmärchen bewandert und kannte auch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm.
Bereits als Kind durch Intelligenz aufgefallen
Das ist nicht verwunderlich, denn Ginzberg sprach Deutsch. Geboren wurde er 1873 im russischen Kowno, auf dem Gebiet des heutigen Litauen. Danach studierte er im Deutschen Kaiserreich.
Dass aus ihm später ein jüdischer Talmudgelehrter werden sollte, hört sich selbst fast an wie eine Legende. Ginzberg stammte aus einer religiösen Familie und war mütterlicherseits mit einem bedeutenden jüdischen Gelehrten verwandt, dem Gaon von Wilna. Dieser hatte das Judentum Mitte des 18. Jahrhunderts mit seinen Auslegungen geprägt.
«In der Familie erzählte man sich, dass ein Nachkomme des Gaon sein Nachfolger werde», erzählt Ginzbergs Enkel David Gould, ein 77-jähriger New Yorker. «Dieser werde strahlend blaue Augen haben.» Solch auffallend blaue Augen, wie sie Ginzberg gehabt habe, der bereits als Kind durch seine Intelligenz aufgefallen sei.
Verbreiteter Antisemitismus
Sein Weg zum grossen Gelehrten verlief allerdings nicht geradlinig. Zwar doktorierte er an der Universität Heidelberg. «Doch als Jude hätte er im Deutschen Kaiserreich wohl kaum eine Anstellung an einer Universität gefunden», erzählt der Enkel. Grund war der weit verbreitete Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts, mit Pogromen auf dem heutigen Gebiet Russlands und der Ukraine und Einschränkungen in deutschen Städten.
Als Louis Ginzberg 1899 eine Einladung in die USA erhielt, nahm er sie sofort an. Er ging ans renommierte Jewish Theological Seminary in New York, der führenden Institution für die Ausbildung von Rabbinern in den USA. Dort wurde er zu einer der prägenden Figuren des konservativen Judentums.
Ein begnadeter Geschichtenerzähler
Die Legenden sammelte er seit seiner Dissertation in Heidelberg. Damals habe er vermutlich Feuer gefangen. «Mein Grossvater war ein begnadeter Geschichtenerzähler», erinnert sich Enkel Gould.
In den folgenden 30 Jahren schrieb der Gelehrte Hunderte von Legenden nieder. Legenden, wie jene, in der sich die Buchstaben des hebräischen Alphabets bei Gott darum bewerben, die Schöpfungsgeschichte zu beginnen. Oder jene, in der Gott nicht nur einen Himmel und eine Erde erschafft, sondern gleich deren sieben. Das verleiht dem Ausspruch, sich wie im siebten Himmel zu fühlen, einen ganz neuen Sinn. Denn in ihm wohnt das Gute und Schöne, und steht Gottes Thron.
Magische Kosmologie
«Gerade diese Legenden sind ein Beispiel dafür, wie knapp die biblische Erzählung von der Schöpfung eigentlich ist», erklärt Literaturwissenschaftler Kilcher. «Die jüdische Legendenliteratur schmückt sie aus, entwickelt eine eigene Kosmologie.»
Die Legenden der Juden sprengen bisherige Vorstellungen. «Das Charakteristikum dieser Legenden ist, dass sie ein Element stark machen, das die Bibel herauszuhalten versucht: die Magie, aber auch das Alltägliche, das mit der Magie verbunden ist, etwa die Heilung von Krankheiten oder das Finden von Liebe.»
Dass das Judentum dermassen magisch aufgeladen ist, überrascht. Allerdings nur aus heutiger Perspektive. «Wir haben ein modernes Bild des Judentums», so Kilcher. «Während der Aufklärung haben jüdische Philosophen wie Moses Mendelssohn und andere das Judentum als rationale Religion positioniert.»
Die modernen jüdischen Denker hätten die Vernunft betont und das magische und mystische Element aus dem Judentum gestrichen. «Sie sagten, das sei Götzendienst, das sei unrein, mit dem wollen wir uns nicht identifizieren.»
Doch die Legenden zeigen ein völlig anderes Bild: «Dass nämlich das Magische und Mystische zum Judentum gehört hat und gehört.» Ginzbergs «Legenden der Juden» bringen das Magische zurück ins Judentum.
Fast 90 Jahre auf Deutsch unveröffentlicht
Dass diese Legenden erst jetzt im deutschen Original zu lesen sind, ist eine historische Pointe. In den USA, wo Ginzberg lebte, erschienen sie bis 1930 in englischer Übersetzung. Deswegen sind sie in englischsprachigen jüdischen Familien bekannt.
Anders im deutschsprachigen Raum: Während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs war eine Publikation in der Originalsprache nicht möglich. Danach hat sich niemand mehr darum gekümmert. Bis heute. Sie mussten fast 90 Jahre warten, um wachgeküsst zu werden – wie der Frosch im Grimm'schen Märchen.
Der Frosch in den jüdischen Legenden ist allerdings kein verzauberter Prinz, sondern entpuppt sich als Adams Sohn. Gezeugt mit Lilith, der ersten Frau Adams mit dämonischen Wurzeln. Deshalb könne er jede Gestalt annehmen, die ihm beliebt. Er ist also ein Gestaltwandler. Und damit eine typische Fantasyfigur.
In der Welt der «Legenden der Juden» von Louis Ginzberg hätte sich dementsprechend wohl auch Harry Potter und Co. zu Hause gefühlt.