Am 10. Juli 1919 nachmittags werden in Langenbruck die Geschwister Oskar und Leny Bider zu Grabe getragen. Drei Tage zuvor, am 7. Juli, ist der berühmte Schweizer Aviatik-Pionier Oskar Bider bei einem Flugmanöver tödlich abgestürzt.
Nur wenige Stunden später hat sich seine Schwester Leny Bider, die als Schauspielerin und Modeschöpferin ebenfalls bekannt ist, in einem Zürcher Hotelzimmer mit der eigenen Pistole erschossen. Sie ist erst 25 Jahre alt.
Bei der Beerdigung wird die Selbstmörderin totgeschwiegen, während Oskar mit sämtlichen militärischen Insignien geehrt wird. Leny gerät in Vergessenheit.
Wiederentdeckt – nach 100 Jahren
Jetzt wird Leny Bider wiederentdeckt. Angestossen durch den örtlichen Frauenverein, hat der gebürtige Langenbrucker Johannes Dettwiler eine Biografie über sie geschrieben.
In einer aufwändigen Recherche hat der pensionierte Ingenieur und Hobby-Historiker Fotos und Dokumente aus privaten Nachlässen zusammengetragen – darunter Leny Biders Tagebuch.
Sie ging ins Kino!
«Leny war eine sehr eigenwillige Person, die sich nicht an Konventionen hielt», sagt Johannes Dettwiler. Schon als Teenager schwärmte sie fürs Theater und ging ins Kino, obwohl sich das für eine Tochter aus gutem Haus nicht schickte.
Mit 16 Jahren war Leny Bider Vollwaise und wurde von ihrem Vormund in ein Mädchenpensionat gesteckt. Dort sollte sie standesgemäss geformt und auf die Ehe vorbereitet werden.
Künstlerleben in Zürich
Doch Leny hat andere Pläne: Sie will Schauspielerin werden. Zudem hat sie einen Sinn für Mode und Kunst, sie ist eine begabte Malerin. Als sie volljährig ist und sie niemand mehr kontrollieren kann, lässt sie sich in Zürich nieder.
1916 eröffnet sie an der Bahnhofstrasse ihr eigenes Modeatelier. Sie skizziert Kleider, entwirft Hüte. Einige dieser Modeskizzen sind erhalten geblieben, Reproduktionen davon hängen heute im Hotel «Erica» in Langenbruck.
Mit Hosen im ersten Schweizer Bergfilm
1917 ergattert Leny Bider ihre erste Filmrolle, in einem 16-minütigen Kinoschwank mit dem Titel «Frühlingsmanöver». Leny spielt darin die Rädelsführerin in einem Mädchenpensionat.
Wenig später holt sie zu ihrem ganz grossen Coup aus: Sie gewinnt die Hauptrolle in «Der Bergführer», dem ersten Schweizer Bergfilm. Das 65-minütige Melodram wird in den Schneeregionen des Berner Oberlands auf Höhen um 2000 bis 3000 Meter gedreht.
Leny zieht vor dieser Kulisse sämtliche Register ihrer Persönlichkeit. «Statt im Rock auf dem Schlitten zu sitzen, kreuzt sie in Hosen und auf Skiern auf, rennt die Berghänge hoch, und das ganze Filmteam keucht hinter ihr her», sagt die Schriftstellerin Margrit Schriber, die über Leny Biders Leben einen Roman veröffentlicht hat. Sogar einen sekundenschnellen Kuss drückt Leny ihrem Filmpartner auf die Lippen, obwohl das verboten war.
Die Filmkritiken für den «Bergführer» sind sehr wohlwollend, und Leny Bider alias Leny Harold erntet viel Lob für ihre Darstellung. Ein Rezensent in Zürich schreibt, es sei schade, dass die Interpretin im Film nicht stärker zum Zug gekommen sei. Er hoffe, Fräulein Harold recht bald in stärkerer Rollenbesetzung zu sehen, in einem Drama, in dem sie ihr wirkliches Können zu zeigen vermöge.
Heirat wider Willen
Dazu sollte es nicht mehr kommen. Einer von Oskars Militärkameraden macht Leny den Hof: der Kavallerist und Oberstleutnant Ernst Theodor Jucker, der aus einer angesehenen Zürcher Familie stammt. Er will Oskars Schwester zur Räson bringen und aus ihr eine ehrbare Frau machen. Und sie, die einmal überzeugt gewesen ist, dass sie niemals heiraten werde, sie fügt sich Juckers Absichten – widerwillig und mit grossen Zweifeln.
«Ihr graute davor, erneut in die Abhängigkeit eines Mannes zu geraten», sagt Johannes Dettwiler. Doch da sie keine weiteren Filmrollen bekam, wahrscheinlich, weil Jucker dies mit seinem öffentlichen Einfluss verhinderte, blieb ihr keine Wahl.
Im Juni 1919 geben Leny Bider und Ernst Jucker in knappen Worten ihre bevorstehende Vermählung bekannt. Am 5. Juli erscheint die Annonce offiziell in der amtlichen Liste im Tagblatt der Landschaft Basel.
Zwei Tage später stürzt Oskar Bider in den Tod. Für Leny bricht die Welt zusammen. Nur mit dem ungeliebten Bräutigam an ihrer Seite kann und will auch sie nicht weiterleben.
Mutige Geschwister
Was bleibt heute von Leny Bider? Sie ist ein Phänomen, stellt Margrit Schriber fest: «100 Jahre nach ihrem Tod bewegt uns ihr Schicksal.»
Die Langenbruckerin Christine Heid sieht die Leistungen von Oskar und Leny Bider rückblickend als absolut gleichwertig. «Ob Alpenüberflug oder Filmaufnahmen in den Alpen: Die Geschwister haben den gleichen Mut bewiesen», sagt sie.
Die Frau, die ihrer Zeit voraus war, erfährt 100 Jahre später Gerechtigkeit.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 12.01.2018, 09.00 Uhr.