Noch nie hat die römisch-katholische Kirche der Schweiz so viele Kirchenaustritte erlebt: Das zeigen die Berichte der Kantonalkirchen, die aktuell ihre Zahlen bekanntgeben.
Alarmierend ist zum Beispiel die Anzahl der Austritte im Aargau. Ein Drittel mehr Menschen sind dort 2018 aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten als noch im Jahr zuvor.
Religionsredaktorin Judith Wipfler spricht über die Gründe für den Austrittstrend – und welche Schritte jetzt notwendig sind.
SRF: Im vergangenen Jahr sind im Kanton Aargau über 4000 Katholikinnen und Katholiken aus der Kirche ausgetreten, 1000 mehr als im Jahr zuvor. Haben die Missbrauchsskandale das Fass zum Überlaufen gebracht?
Ja, die Missbrauchsfälle könnten der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überschwappen bringt. In der römisch-katholischen Kirche löst er eine neue Austrittswelle aus.
Die Priesterskandale und ihre mediale Präsenz geben denjenigen, die ohnehin nichts mehr mit Kirche anfangen können, eine moralisch gute Begründung für den Austritt. Viele wollen nicht mehr zu «diesem Verein» gehören – selbst wenn der konkrete Ortsverein, die Pfarrei im eigenen Dorf, skandalfrei ist.
Welche Gründe gibt es neben den Missbrauchsskandalen für einen Austritt aus der Kirche?
Der am häufigsten genannte Grund für Austritte ist gemäss Pfarreisekretariaten die Kirchensteuer. Daneben ist die fortschreitende Säkularisierung ein Langzeittrend.
Traditionen werden nicht mehr verbindlich weitergegeben. Die Institution Kirche ist zunehmend überaltert – und stirbt im wahrsten Wortsinn aus.
Und dann gibt es noch eine kleine Gruppe, die mit ihrem Austritt wirklich protestieren möchte. Sie möchte einen Wandel in den Hierarchien bewirken, etwa bei der Rolle der Frau.
Beispielsweise sind vor ein paar Monaten prominente Schweizer Katholikinnen öffentlichkeitswirksam aus der Kirche ausgetreten.
Ein neues Phänomen ist, dass auch Italiener und Portugiesinnen aus der katholischen Kirche der Schweiz austreten.
Das fand ich besonders alarmierend im Bericht, den das Aargauer Pfarrblatt «Horizonte» am Donnerstag veröffentlichte . Denn die katholischen Migrationsgemeinden haben die römisch-katholische Kirche in der Schweiz bisher zum Wachsen gebracht – oder zumindest die Erosion der Mitglieder extrem verlangsamt.
Wenn sich nun diese einst so treue Gruppe der Kirche entfremdet, stimmt das nachdenklich. Zum Teil wird es mit den Kirchenskandalen in Südeuropa zu tun haben. In Spanien wird etwa gerade die Kollaboration der Kirche mit der Franco-Diktatur in Sachen Kindsraub aufgearbeitet.
Wer hierzulande aus der Kirche austritt, bestraft damit nicht schuldige Kardinäle in Frankreich, Australien oder Pennsylvania und auch nicht den Papst in Rom. Die Leidtragenden, vor allem finanziell, sind die Schweizer Pfarreien. Wie kann die Kirche diesen Abwärtstrend stoppen?
Indem sie genau diesen Unterschied kommuniziert. Wobei sie das schon seit Jahrzehnten versucht.
Die Schweizer Kirche ist viel weiblicher, demokratischer und progressiver als anderswo.
Tatsächlich sieht in der Schweiz die Basis der römisch-katholischen Kirche ja ganz anders aus als im Vatikan: Sie ist viel weiblicher, demokratischer und progressiver als anderswo.
Im Innern, in den sogenannten Kerngemeinden, weiss man das auch. Aber die Distanzierten erreicht man mit dieser Botschaft schon länger nicht mehr.
Der Mitgliederschwund betrifft auch die Reformierten. Hat die Krise in der römisch-katholischen Kirche auch einen Einfluss auf die reformierte Kirche?
Rein statistisch: Ja. Gerade distanzierte Kirchenmitglieder nehmen Skandale wie aktuell zum Anlass auszutreten – auch wenn diese die reformierten Kirchen gar nicht betreffen.
Die Säkularisierung betrifft beide Konfessionen.
Das Image der römisch-katholischen Kirche prägt das Image von Kirche ingesamt. Zudem betrifft die Säkularisierung beide grosse Konfessionen.
Das Gespräch führte Sandra Leis.