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Mehrgenerationenhaus bei Bern Als Alleinerziehende in einer 30-köpfigen WG

«Es braucht ein Dorf, um ein Kind grosszuziehen»: Dieses Sprichwort wird für Maria Matter in ihrer Gross-WG zur Realität. Wie funktioniert das Familienleben jenseits der normativen Kleinfamilie?

Wo ist Zora? «Irgendwo im Haus», antwortet Maria Matter, 38, Zoras Mutter. Und lacht. Sie lebt mit ihrer neunjährigen Tochter in der Gross-WG «U-Huus» in einem Dorf nahe der Stadt Bern. Im umgebauten Bauernhof teilen sich 21 Erwachsene und neun Kinder den Lebensraum. Zora ist das älteste Kind hier und zieht mit den Kleineren auf dem Grundstück der Gemeinschaft umher.

Eine Frau mit gelbem Oberteil, sie lacht. Sie sitzt vor einer hellblauen Kochnische. Im Hintergrund sind Fenster.
Legende: Neben buntem Treiben erlebt sie in ihrem Alltag auch viel Freiraum: Dank ihrer Wohnsituation hat Maria auch als Mutter hin und wieder Zeit für sich alleine. SRF / Severin Nowacki

Es herrscht ein reges Kommen und Gehen im breiten Entrée des ausgebauten Bauernhofs. Marias Mitbewohnerin, eine andere junge Mutter, steigt vom Fahrrad und schüttelt sich Konfetti aus dem Haar. An der Hand hält sie ein kleines Kind, im Veloanhänger schläft ein weiteres.

Ein hochgewachsener Mann stösst dazu, auch er wohnt hier. Vor vier Wochen sei sein drittes Kind – das jüngste WG-Mitglied – zur Welt gekommen, erklärt Maria. Die Grossmutter, die ebenfalls hier lebt, wird das Baby später hochtragen, in ihre eigene Wohnung im Obergeschoss des Hauses. Es ist viel Betrieb – aber von Chaos kaum eine Spur.

Das Wohnprojekt «U-Huus»

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Ein Bauernhaus mit Riegelwerk. Darum herum viel Grün.
Legende: SRF / Severin Nowacki

2021 war es so weit: Die Gross-WG, die vorher schon zusammen gewohnt hatte, konnte ein ausgebautes Bauernhaus in der Nähe von Bern beziehen.

Im Haus mit gemeinsamem Garten gibt es ein grosses gemeinschaftlich genutztes Wohnzimmer, eine Grossküche, eine Werkstatt und eine Vorratskammer.

Jede Wohnpartei hat einen eigenen Rückzugsraum : Familien haben grössere, eingebaute Wohnungen, Alleinstehende entsprechend kleinere Räume für sich.

Ein Teil der Bewohnenden der Gemeinschaft teilt sich nicht nur den Wohn- und Lebensraum, sondern auch das Geld: in einer sogenannten «Gemeinsamen Ökonomie» .

Den Haushalt der Gemeinschaft haben die Bewohnenden in verschiedene Arbeitsgruppen aufgeteilt: zum Beispiel «Finanzen», «Garten», «Einkauf» und «Eltern».

Die Geschichten und Konstellationen in der Gemeinschaft sind sehr unterschiedlich. Insgesamt sechs Elternpaare leben mit ihren Kindern hier, Maria mit ihrer Tochter Zora, drei Personen im Pensionsalter und fünf weitere Erwachsene.

«Für mich war schon immer klar», erzählt Maria auf dem Rundgang durchs Haus, «auch mit Kind will ich in einer Gemeinschaft leben.» Das klassische Kleinfamilienleben sei für sie nie infrage gekommen.

Gross-WG mit Kindern – eine Seltenheit

«Mein eigenes Häuschen zu haben, meinen eigenen Rasenmäher, immer an den Einkauf zu denken – das wäre für mich kein Luxus. Das würde mich nur stressen.»

Seit drei Jahren lebt Maria mit Zora hier. Eingezogen war sie mit ihrem ehemaligen Partner. Nach der Trennung zog er aus. Heute lebt sie streng genommen alleinerziehend. «Aber so fühle ich mich überhaupt nicht. Ich kann mich in meine eigene kleine Wohnung innerhalb des Hauses zurückziehen, wenn mir danach ist. Aber ich fühle mich nie einsam.»

Die Bewohnenden haben alles, was andere Eltern im Einfamilien-Haushalt leisten müssen, untereinander aufgeteilt. Jede und jeder der Bewohnenden hat ein eigenes «Ämtli» und ist Mitglied in verschiedenen Arbeitsgruppen, je nach Präferenz und Priorität.

«Ich liebe es, Räume einzurichten. Deshalb bin ich in der entsprechenden AG. Wäsche zusammenzulegen würde mir gar nicht liegen. Das übernimmt hier zum Glück jemand, der es gern macht.» Maria schaut auf dem Handy im WG-Chat nach und ergänzt: «Es sind so viele AGs, ich vergesse bestimmt einige: Es gibt die AG Garten, Finanzen, Einkauf – und die AG Eltern.» Erziehungsprinzipien und Familienregeln werden in dieser Gemeinschaft ebenfalls in einer Arbeitsgruppe diskutiert und ausgehandelt.

Smartphonezeit, Süssigkeiten, Streitkultur

Die aussergewöhnliche Clanstruktur der Gemeinschaft stösst immer wieder auf grosses Interesse. «Wir werden oft gefragt, wie das bei uns funktioniert», erzählt Sarah. Sie ist 36 Jahre alt, Mutter zweier Kinder und Bewohnerin im Haus. «Wir haben es schon wahnsinnig gut. Aber es ist auch herausfordernd – gerade mit Kindern.»

So gross wie der Rückhalt zwischen den einzelnen Familien im Haus sei, so gross sei auch die Abhängigkeit zwischen allen Parteien: «Was mein Partner und ich mit unseren Kindern machen, hat sofort einen Effekt auf eine andere Familie in der Gemeinschaft. Wir sind also gezwungen, Erziehungsregeln in der Gruppe auszuhandeln.»

Zwei Papiere im Quer-Format mit Blätter-Verzierung, darauf Listen. Daneben ein Besen.
Legende: To-dos fein säuberlich notiert und gut sichtbar aufgehängt: Das Zusammenleben in der Gross-WG funktioniert nur mit guter Organisation. SRF / Severin Nowacki

In der Wohngemeinschaft ist geregelt, welches Kind wie viel Bildschirmzeit zur Verfügung hat, wie viele Süssigkeiten okay sind – und um halb acht ist für alle fix geregelte Zubettgeh-Zeit. Etwa alle drei bis vier Wochen halten die Eltern eine entsprechende Sitzung ab. Das nächste Mal steht die Frage nach Haustieren an. Diesen Wunsch hätten die Kinder geäussert – in ihrer eigenen Kindersitzung.

Ohne Kommunikation geht gar nichts

Das Modell der Familienstruktur unter einem Elternpaar ist in der Schweiz selbstverständlich: Die vom Bundesamt für Statistik (BFS) erfassten Daten zu Familien in der Schweiz bestätigen dies. Das Konzept der Kleinfamilie werde in weiten Teilen der westlichen Welt kaum hinterfragt, sagt Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve. Die Familienforscherin und Autorin kennt selbst ähnliche Gemeinschaftsprojekte.

Allerdings seien es so wenige, dass kaum Forschung und verlässliche Zahlen zu alternativen Familienstrukturen im europäischen Raum bestünden. «Man weiss aus einem wissenschaftlichen Standpunkt gesehen nicht wirklich, wie es diesen Gemeinschaften geht, welche gemeinsamen Charakteristika sie haben und was sie voneinander unterscheidet.»

Sie sei zwar überzeugt: Eine Clanstruktur habe das Potenzial, die Kleinfamilie zu entlasten. «Je breiter die Verantwortung verteilt wird, desto kleiner der Mental Load für jede einzelne Person», sagt Tazi-Preve. Oft gingen diese Gemeinschaften aber wieder in die Brüche.

Was ist Mental Load?

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«Mental Load» bedeutet mentale Belastung. Der Begriff bezeichnet die Last durch ständige unsichtbare Planungs- und Koordinierungsaufgaben, die im Alltag anfallen, und die damit verbundene Verantwortung. Zum Beispiel Putzen, Kochen und Einkaufen planen oder an Geburtstage denken, Geschenke besorgen und Feste vorbereiten.

«In solchen Kollektiven entstehen immer komplexe Dynamiken zwischen den Bewohnenden. Das Risiko für Misstrauen oder missbräuchliches Verhalten besteht. In vielen Fällen haben solche Gemeinschaften keine ausreichend gute Konfliktkultur etabliert.» Die Gemeinschaft im «U-Huus», so die Familienforscherin, scheine dahingehend mit der internen Organisation und den Arbeitsgruppen einiges richtigzumachen.

Grosse Gemeinschaft, verbindlicher Takt

Zurück im Haus der Gemeinschaft bei Bern. Punkt 18:30 Uhr hallt ein Gong durchs Haus. Das Essen ist bereit, der Gemeinschaftsraum füllt sich, der Geräuschpegel steigt an.

Die Bewohnerinnen und Bewohner strömen zur Durchreiche der Küche, wo Metallbehälter mit Essen bereitstehen. Es herrscht eine Stimmung wie in einer Kantine. Am zentralen Tisch sitzen bald 15 Leute. Davor steht ein voll besetzter Tisch mit fünf Plätzen, an einen weiteren Tisch setzen sich nochmals sechs Personen.

Eine Ablage mit Kochlöffeln, Geschirr und Gläsern. Im Hintergrund mehrere Personen (verschwommen) an einem Tisch.
Legende: In der WG gibt es eine grosse Tafel, an der sich allabendlich viele der Bewohnenden versammeln. SRF / Severin Nowacki

«Wir verstehen uns als eine Gemeinschaft von Kernfamilien», führt Maria zwischen zwei Bissen Spaghetti mit Tomatensauce aus. «Jede Kernfamilie hat ihre eigene Wohnung, ihre eigenen Regeln.» Diesen Mikrokosmos hätten die Bewohnenden um die Gemeinschaft und den Bau erweitert. In diesem Sinne lebten die 30 Menschen hier in einem Clusterbau.

Dass diese Struktur fragil ist, scheint den Bewohnenden bewusst zu sein. Wenn jemand ausziehe und es um die Nachfolge gehe, sei das Interesse am Leben in dieser Gemeinschaft jeweils sehr gross. Entsprechend akribisch sei das Auswahlverfahren. Es gehe so weit, dass einzelne Interessierte erst einmal eine Zeit probewohnten, bevor entschieden wird.

Inspiration Gross-WG

Die Gemeinschaft im «U-Huus» scheint tatsächlich eine grosse Ausnahme zu sein. Alleine schon die Suche nach der Gemeinschaft war ein langjähriger Prozess: Gleichgesinnte zu finden, die wirklich mitziehen. Die zusammen die finanziellen Mittel haben, damit Hauskauf und -ausbau möglich waren. Und die Bereitschaft jeder einzelnen Person, an der Clanstruktur per se zu arbeiten.

Es gebe Ansätze aus der Gemeinschaft, die sich auch ins klassische Familienleben integrieren liessen: Maria rät zu mehr ehrlichem Austausch zwischen Eltern: «Der Stress am Morgen, bis alle pünktlich aus dem Haus können. Probleme in der Schule. Zweifel, ob man das mit dem Elternsein richtig hinbekommt: Dieser Austausch findet bei uns in der Gemeinschaft automatisch statt. Für uns ist klar, wir haben alle mit denselben Themen zu kämpfen.»

Ansicht von oben, ein Spiel mit grüner Plastikinsel und Spielkarten. Rund herum sitzen Kinder, Beine und Hände sichtbar.
Legende: Auch ein Einzelkind ist hier nicht einzeln: Die Kinder im «U-Huus» verbringen viel Zeit beim gemeinsamen Spielen. SRF / Severin Nowacki

«Man muss als Eltern nicht alles abdecken können», sagt Maria. Hier im Haus sei den Bewohnenden wichtig, dass die Kinder untereinander lernen, Freundschaften zu pflegen. Genauso wichtig seien aber auch die Freundschaften zu Erwachsenen im Haus. So können die Kinder von den Fertigkeiten anderer Bewohnender profitieren und von ihnen zum Beispiel das Notenlesen oder Veloflicken lernen.

Gerade in dieser Hinsicht könnte sich die «klassische» Kleinfamilie von der Gross-WG eine Scheibe abschneiden: Statt von den Mitbewohnern können die Kinder auch von Nachbarinnen oder anderen Bezugspersonen lernen.

Die Familienforscherin Tazi-Preve geht noch einen Schritt weiter: «Vor der Familienplanung stünde es werdenden Eltern gut an, sich zu fragen: Wen könnten wir verbindlich in die Familienstruktur einbinden – als fixe Bezugsperson, die regelmässig Verantwortung übernimmt? Damit man danach nicht immer auf der Suche nach Entlastung im Alltag ist.»

Radio SRF 3, Input, 17.03.2024, 20:03 Uhr;kobt

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