Zum Inhalt springen

Migrationsexperte Gerald Knaus «Wir müssen die Migration kontrollieren, aber ohne Gewalt»

Entscheidungsträger in ganz Europa suchen den Rat des österreichischen Migrationsexperten Gerald Knaus. Im Umgang mit der Migrationskrise fordert er Empathie und Kontrolle.

Gerald Knaus

Migrationsexperte

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Der Österreicher Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative , die sich als Denkfabrik mit dem Verhältnis Südosteuropas mit Westeuropa befasst. Der Migrationsexperte gilt als Architekt des Migrationsabkommens, das die EU mit der Türkei abgeschlossen hat.

SRF: Sie behaupten, die europäische Aussengrenze sei die tödlichste Grenze der Welt. Warum?

Gerald Knaus: In den letzten zehn Jahren sind über 28'000 Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer gestorben. Keine Grenze der Welt ist so gefährlich. Allein im letzten Jahr waren es fast 3000 Tote. Das ist eine Opferbilanz wie im Krieg. Und es hört nicht auf.

Wir brauchen Verhandlungen auf Augenhöhe und attraktive Angebote. Etwa Ausbildungsmassnahmen vor Ort, Stipendien oder Visa-Erleichterungen.

Sie nennen Ihre Lösung eine «realistische Utopie». Wie sieht sie aus?

Die Seenotrettung hat das Sterben nicht beendet. Und auch nicht das Verbot der Seenotrettung. Wir müssen einen Schritt vorher ansetzen und dafür sorgen, dass die Menschen gar nicht erst in diese lebensgefährlichen Boote steigen. Indem wir sagen: Jeder Mensch hat ein Recht auf eine Asylprüfung. Aber das Asylgesuch wird nicht in Europa geprüft, sondern ausserhalb, in sogenannten «sicheren Drittstaaten».

«Wir brauchen attraktive Angebote»: Flüchtlinge kommen auf Sizilien in einem Lager an.
Legende: «Wir brauchen attraktive Angebote»: Flüchtlinge kommen auf Sizilien in einem Lager an. Keystone / EPA ANSA / CONCETTA RIZZO

Das ist ein Vorgehen, mit dem Dänemark, England und Italien liebäugeln. Eine Strategie, die Australien seit Jahrzehnten verfolgt, dabei aber Menschenrechte von Asylsuchenden verletzt hat. In Asyllagern auf kleinen Inseln wie Nauru und Manus.

Es hängt alles daran, dass wir garantieren können, dass die Asylsuchenden faire Verfahren durchlaufen und die Menschenrechte gewahrt werden. Das war bei Australien nicht der Fall. Aber zum Glück haben wir hierzulande Gerichte, die das prüfen. Wie in England, wo das oberste Gericht entschieden hat, dass in Ruanda keine fairen Asylverfahren garantiert werden können.

Angenommen, wir finden sichere Drittstaaten, die Menschen aufnehmen und faire Asylverfahren durchführen – auch unter der Führung des UNHCR, wie Sie fordern. Welchen Anreiz haben diese Länder?

Wir brauchen Verhandlungen auf Augenhöhe und attraktive Angebote. Etwa Ausbildungsmassnahmen vor Ort, Stipendien oder Visa-Erleichterungen, damit die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder einfacher nach Europa reisen können. Ganz Europa sucht händeringend nach Arbeitskräften.

Welche Rolle spielt die Schweiz in der europäischen Asylpolitik?

Die Schweiz könnte, zusammen mit Österreich und Deutschland – als Bodenseekoalition – ein Angebot machen an Grossbritannien und sagen: Wir nehmen alle Menschen zurück, die irregulär über den Ärmelkanal von Frankreich nach England fliehen. Das sind im Winter etwa 1500 pro Monat. Dann würde nach kurzer Zeit niemand mehr in Boote steigen.

Viktor Orbán will nicht nur den Flüchtlingsschutz abschaffen, sondern auch die universellen Menschenrechte.

Und was bekommen wir als Gegenleistung?

England müsste jedes Jahr etwa 30'000 Flüchtlinge aufnehmen, die bei uns Asyl bekommen haben. Das wäre moralisch gesehen die viel bessere Lösung. So könnte man Tote im Ärmelkanal verhindern und verbrecherischen Schleppern das Handwerk legen.

Sie sagen, überall in der Welt zerbricht seit Jahren die Flüchtlingskonvention. Wir sehen immer mehr Zäune, Pushbacks und Gewalt an Grenzen – auch in Europa. Wie zuversichtlich sind Sie, dass Europa eine Lösung findet?

Ich glaube, die meisten Menschen haben Empathie mit Menschen auf der Flucht. Aber sie wollen Kontrolle, wenn auch nicht um jeden Preis. Ich hoffe, dass auch die Gegner von Rückführungen und Drittstaatenlösungen erkennen: Damit überzeugt man keine Mehrheiten mehr. Es steht zu viel auf dem Spiel.

Wenn die falschen Personen an die Regierung kommen, dann verlieren wir sehr viel mehr. Viktor Orbán will nicht nur den Flüchtlingsschutz abschaffen, sondern auch die universellen Menschenrechte.

Das Gespräch führte Yves Bossart.

Bücher von Gerald Knaus

Box aufklappen Box zuklappen
  • «Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl» (Piper, München 2020)
  • «Wir und die Flüchtlinge» (Brandstätter Verlag, Wien 2022)

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 4.2.2024, 11:00 Uhr

Meistgelesene Artikel