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Serie «Expedition Glück» – Teil 2 Norwegen
Aus 10 vor 10 vom 06.08.2019.
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Musterland Norwegen Gut punkto E-Mobilität, schlecht im Verzicht

Norwegen gilt als Vorreiter in Sachen Ökologie, Demokratie und Frieden. Nun steht das Land gerade in diesen Bereichen vor neuen Herausforderungen. Eine Reportage.

«Jetzt wird es dann gleich etwas kühl», sagt Paal Mork. Er öffnet per Gesichtserkennung in seinem Smartphone eine schwere Eisentür unter der Akershus Festning im Zentrum der norwegischen Hauptstadt Oslo.

Unter der mittelalterlichen Burg wurden in den Jahren des Kalten Krieges Zivilschutzanlagen errichtet. Heute führt uns Paal Mork, der bei der Osloer Stadtverwaltung für E-Mobilität zuständig ist, durch einen engen, dunklen Gang zu einer unterirdischen Halle.

Tiefgarage, in der E-Autos parken.
Legende: Ladestation für E-Autos im ehemaligen Schutzraum unter der Festung Akershus in Oslo. Thomas Hug

«Das hier ist das erste Parkhaus der Welt, das ausschliesslich für E-Fahrzeuge eingerichtet ist», sagt der Mittvierziger und zeigt auf die lange Reihe von Teslas, Jaguaren, Audis, BMWs und Kias, die hier zu einem günstigen Preis aufgeladen werden können.

Mehr elektronische Neukäufe

Paal Mork ist gewohnt, das neue Herzstück der Osloer E-Mobilität neugierigen Besuchern aus dem In- und Ausland zu zeigen: Als wir zu seinem ebenfalls hier im Festungsparkhaus abgestellten Volkswagen kommen, öffnet sich aus einigen Metern Distanz der Kofferraum des Autos und zieht ein Poster mit einem Diagramm in die Höhe.

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Aus dem Archiv: Wie Norwegen das Elektroauto fördert
Aus Rundschau vom 08.03.2017.
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«Wir sind auf gutem Weg, unsere Benzinerflotte mit E-Autos zu ersetzen», sagt Mork und zeigt auf eine Tabelle, auf der die Neuverkäufe der elektronisch angetriebenen Autos jene der konventionellen Fossilfahrzeuge längst hinter sich gelassen haben: «In diesem Jahr rechnen wir damit, dass über 60 Prozent aller neuen Autos reine Elektrofahrzeuge sind.»

Autos, Busse, Fähren – alles mit Strom

Nach diesen ersten Erklärungen tief unter der Festung von Akershus setzen wir uns in Morks Auto und kommen in der Nähe des Hafens Vippetangen wieder ans Tageslicht. Auf der kleinen, in den pittoresken Oslofjord hinausragenden Halbinsel wird deutlich, weshalb Norwegen heute zu Recht als Vorreiter in Sachen E-Mobilität gilt.

Ein Mann steht vor Solarpanelen.
Legende: Paal Mork ist bei der Osloer Stadtverwaltung für E-Mobilität zuständig. Thomas Hug

Nicht nur tragen fast alle Autos, die an diesem sonnigen Herbsttag passieren, das «E» für Elektrofahrzeug auf dem Kennschild. Ganz Oslo, so scheint es, nutzt die überall angebotenen Elektroroller zur Fortbewegung im Hafengebiet.

Hier gibt es auch eine Schnellladestation für Stadtbusse und ein enormes Ladekabel für grosse Fährschiffe. «Unsere Busse erhalten hier in fünf Minuten genug Strom für einen zweistündigen Betrieb», erklärt Mork.

Er fügt hinzu, dass seit Kurzem auch die Fähren zwischen Oslo und Dänemark, beziehungsweise Deutschland, nur noch mit sauberem Strom aus der Wasserkraftproduktion angetrieben werden dürfen.

Eine Fähre fährt über ein Gewässer.
Legende: Auch die Fähre «Kongen» fährt elektronisch. Thomas Hug

Vorzügliche Lebensqualität

Der umweltgerechte Fortschritt ist in Oslo überall zu spüren. Noch vor wenigen Jahrzehnten wirkte das politische Zentrum Norwegens eher ärmlich und heruntergekommen. Heute zeigt es sich von seinen besten Seiten: Die Hauptstadt verfügt im internationalen Vergleich über eine vorzügliche Lebensqualität.

Norwegen an der Frankfurter Buchmesse

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Norwegen ist ein Leseland: Im Schnitt liest jeder Norweger jährlich 15 Bücher. Das Land hat bislang drei Literaturnobelpreisträger hervorgebracht, und Autoren wie Karl Ove Knausgård oder Jo Nesbø veröffentlichen regelmässig Bestseller. An der Frankfurter Buchmesse, die am 16. Oktober eröffnet wird, ist Norwegen Ehrengast. Ein üppiges Programm bildet die norwegische Literatur- und Kulturlandschaft ab.

Die moderne neue Osloer Oper liegt wie das grosse Vorbild in Sydney fotogen direkt am Hafen. Wer auf dem Dach einen Spaziergang unternimmt, dem eröffnen sich fantastische Aus- und Einsichten in die grösste norwegische Stadt, in deren Grossraum heute fast ein Drittel aller Norwegerinnen und Norweger lebt.

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Muss man kennen: Diese fünf coolen Norweger
Aus Kultur Webvideos vom 09.10.2019.
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Breivik-Attentat als Zäsur

Dabei schweift der Blick nicht nur über die weiträumigen Hafenanlagen, sondern auch über zahlreiche Neubausiedlungen und den erneuerten Hauptbahnhof der Stadt.

Gleich dahinter überrascht der Blick auf ein Hochhaus, dessen Fassade von einer weissen Schutzwand abgedeckt ist. Es ist das 1958 eröffnete Hochhaus der norwegischen Regierung. Am 22. Juli 2011 fuhr der damals 23-jährige Rechtsextremist Anders Behring Breivik einen Lieferwagen vor den Eingang des Osloer Bundeshauses, stieg aus und löste aus einigen hundert Metern Entfernung die Explosion der von ihm selbstgebauten, 950 Kilogramm schweren Bombe aus. Bei diesem Anschlag verloren acht Menschen ihr Leben, zehn wurden schwer verletzt.

Anschliessend begab sich der Terrorist, der zuvor der heute mitregierenden nationalkonservativen Fortschrittspartei angehört hatte, auf die knapp 50 Kilometer entfernte Ferieninsel Utöya, wo er im Verlauf eines fast anderthalbstündigen Massakers 69 Kinder und Jugendliche ermordete.

Eine Gedenktafel steht neben einem Baum.
Legende: Gedenkstätte an den Terrorangriff vom 22. Juli 2011 am zerbombten Regierungsgebäude in Oslo. Thomas Hug

Oslos Wunde ist sichtbar

Auf Utöya gibt es vom Massaker nur noch wenige sichtbare Spuren, ein Mahnmal wurde von den Anwohnern abgelehnt. Im Zentrum Oslos bleibt die durch den Bombenanschlag aufgerissene, physische Wunde hingegen bis heute sichtbar: «Der 22. Juli 2011 hat so vieles in diesem Land verändert», sagt die Journalistin und Autorin Åsne Seierstad, die ich über Mittag treffe.

Der Anschlag ist für die 49-jährige ehemalige Auslandskorrespondentin des Norwegischen Rundfunkes, wie für viele andere Norwegerinnen und Norweger, auch eine persönliche Zäsur.

«Ich habe jahrelang über Konflikte und Kriege draussen in der Welt berichtet, plötzlich erreichte der Terror und die Verwüstung unsere eigene, scheinbar heile Welt», sagt Seierstad, die zu Beginn der Nullerjahre mit dem Roman «Der Buchhändler aus Kabul» weltbekannt wurde.

Eine frau im Porträt.
Legende: Åsne Seierstad wurde von einer Krisenreporterin im Ausland zu einer Krisenjournalistin im Inland. Thomas Hug

Krisenjournalistin im eigenen Land

Seit dem 22. Juli 2011 hat sich Seierstad mehr dem eigenen Land und der eigenen Gesellschaft zugewandt und sehr viel Unerfreuliches erfahren: «Der Terrorist Breivik ist einer von uns, er wuchs in einem wohlhabenden Quartier auf, durchlief gute Schulen und machte auch beruflich Karriere», sagt Åsne Seierstad. Ihre Recherchen zu den Hintergründen der Anschläge erschienen in einem Buch.

Für «Einer von uns: Geschichte eines Massenmörders» erhielt Åsne Seierstad im letzten Jahr den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung.

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Das Buch «Einer von uns» von Åsne Seierstad
aus Kultur-Aktualität vom 24.05.2016. Bild: SRF
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Zusammenhalt droht zu verschwinden

Nach diesem ersten Norwegen-Buch hat sich Seierstad wiederholt mit dem eigenen Land befasst und dabei Entwicklungen entdeckt, die sie sich nie hat vorstellen können.

So geht es in ihrem jüngsten Band «Zwei Schwestern» um Einwanderung. Es handelt von zwei jungen Frauen, die in einer säkularen Einwandererfamilie aus Somalia in Oslo aufwuchsen und übers Internet radikalisiert werden, um schliesslich als Gattinnen von sogenannten IS-Mitgliedern in Syrien zu verschwinden.

«Ein wichtiges Rezept unseres Erfolgs als Land und Gesellschaft droht zu verschwinden: der soziale Zusammenhalt», sagt Seierstad.

Zunehmende Polarisierung

Dieser Zusammenhalt in einem sehr vielfältigen und weitläufigen Land, dessen Küstenlinie mit über 25'000 Kilometern länger ist als jene der USA oder China, baute bislang «sehr stark auf einem politischen und wirtschaftlichen Ausgleich» auf, betont der frühere Chefredaktor der grössten norwegischen Tageszeitung «Aftenposten», Harald Stanghelle.

Ein Mann steht in einem Garten und blickt in die Kamera.
Legende: Harald Stanghelle, Chefredaktor der norwegischen Zeitung «Aftenposten», ist ein Kenner der innenpolitischen Situation Norwegens. Thomas Hug

Wir treffen uns gleich ausserhalb des königlichen Schlosses im Zentrum von Oslo: «Ich schreibe gemeinsam mit dem König an einem Buch», erklärt der 63-Jährige, der als genauer Beobachter norwegischer Verhältnisse bekannt ist, und hält den Finger vor den Mund.

Stattdessen möchte der in einem kleinen westnorwegischen Fischerdorf aufgewachsene Journalist ein anderes Thema ansprechen: «Mit einigen Jahren Verspätung gegenüber dem übrigen Europa erlebt Norwegen gegenwärtig eine starke Polarisierung zwischen urbanen und ländlichen Gegenden», sagt er.

Grosse Parteien verlieren Stimmen

Er verweist damit auf die jüngsten Lokalwahlen von Mitte September, bei denen die beiden grossen Parteien, die Sozialdemokraten und die Konservativen, ihre Mehrheiten an kleinere Parteien am linken und rechten Rand verloren.

«Wir müssen langsam aber sicher von einem übertriebenen Optimismus Abschied nehmen.» Damit meint Stanghelle, den durch den enormen Ölreichtum ausgelösten Wirtschaftsboom der letzten Jahrzehnte, der die norwegische Wirtschaftsentwicklung weitgehend von jener der umliegenden Länder unabhängig gemacht hat.

Ende des Ölzeitalters

Aber jetzt, wo sich ein Ende des Ölzeitalters abzeichnet und die staatlichen Gelder nicht mehr wie gewohnt im Giesskannenprinzip über jeden entlegensten Winkel des Landes verteilt werden, setzt die rechtsliberale Regierung der konservativen Ministerpräsidentin Erna Solberg auf eine Zentralisierung der Macht.

«Leider zeigt unsere Regierung hier wenig Fingerspitzengefühl», sagt Stanghelle und verweist auf die von Oslo angeordnete Zwangsfusion der beiden nördlichsten Provinzen des Landes, Finnmark und Troms. Zuvor hatten sich dort in Volksabstimmungen klare Mehrheiten gegen ein solches Zusammengehen ausgesprochen. Für die Betroffenen kam dies einem klaren Übergriff auf ihre demokratischen Rechten gleich.

Spannungen mit Russland

Aber nicht nur im eigenen Land tut sich der langjährige Musterstaat zunehmend schwer mit den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen: «In unseren Beziehungen zum Nachbarn Russland haben wir in der jüngsten Vergangenheit viele Fehler gemacht», sagt die Forscherin Julie Wilhelmsen, die am Aussenpolitischen Institut Norwegens NUPI zu Russland und weiteren Nachfolgestaaten der Sowjetunion forscht.

Eine Frau lächelt in die Kamera.
Legende: Julie Wilhelmsen forscht zu den aussenpolitischen Beziehungen Norwegens. Thomas Hug

Mithilfe einer Karte hinter ihrem Schreibtisch erklärt die 50-Jährige, deren Mutter einst aus St. Gallen nach Norwegen auswanderte, die Bedeutung der norwegisch-russischen Beziehungen: «Unsere beiden Staaten teilen nicht nur eine Landgrenze ganz oben in Skandinavien, sondern auch eine lange Trennlinie im Nordpolarmeer.»

Vor acht Jahren gelang es dem damaligen norwegischen Regierungschef, dem heutigen Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, mit Russland ein Abkommen über die Interessensabgrenzungen im Nordmeer abzuschliessen: «Das war der Höhepunkt der Entspannungsphase nach dem Ende des Kalten Krieges», erinnert sich Wilhelmsen: «Seither ging es in unseren Beziehungen nur noch bergab.»

Die norwegische Seite trage ihrer Meinung nach eine massgebliche Mitverantwortung für die heutigen Spannungen, die so weit gehen, dass mehrere norwegische Minister unterdessen auf der schwarzen Liste Moskaus stehen und keine Einreisevisa mehr erhalten.

Norwegen hält am Öl fest

Heruntergefahren werden müsste, mit Blick auf den angestrebten Ausstieg aus der fossilen Energie, eigentlich auch die Ölproduktion im sogenannten norwegischen Sockel im Nordatlantik. Doch die Regierung in Oslo tut das Gegenteil: Anfang Oktober nahm der staatliche norwegische Petroliumkonzern Equinor, vormals Statoil, das grösste Förderfeld seit den 1980er-Jahren in Betrieb, etwa 140 Kilometer vor der westnorwegischen Küste bei Stavanger.

Ein Elektroauto parkt neben einem Lastauto.
Legende: Sowohl Strom als auch Benzin werden in Norwegen genutzt: Ein Tesla neben einem Benzinauto in Oslo. Thomas Hug

Hier sollen künftig bis zu 660'000 Fässer Öl pro Tag an die Oberfläche geholt werden und somit zum weiteren Klimawandel beitragen. «Ein Riesendilemma für unser Land», räumt die frühere norwegische Finanzministerin Kristin Halvorsen am Rande eines Seminars zur Energieumstellung ein.

Nicht gut im Verzichten

Während Halvorsen als «Säckelmeisterin» des Landes dafür zu sorgen hatte, die milliardenschweren Einkünfte aus dem Ölgeschäft möglichst gewinnbringend anzulegen, leitet die 59-Jährige nun ein halbstaatliches Klimaforschungsinstitut: «Es stellt sich nun die Frage, ob wir nicht doch auf einen Teil der Erdölvorräte verzichten sollten, die noch im Untergrund liegen», sagt die ehemalige Parteichefin der sozialistischen Linkspartei und fügt hinzu: «Wir modernen Norweger sind aber nicht so gut im Verzichten.»

Eine Frau spricht vor einer Art Bildschirm.
Legende: Kristin Halvorsen war Politikerin. Heute arbeitet sie in einem halbstaatlichen Klimaforschungsinstitut. Thomas Hug

Land muss sich neu erfinden

Zweimal schon konnte sich Norwegen in den letzten 120 Jahren neu erfinden. Zunächst nach der Loslösung von Schweden, per Volksentscheid im Jahre 1905, als junge Nation des sozialen Zusammenhaltes und des gesellschaftlichen Fortschritts. Dies geschah unter schwierigsten geopolitischen und wirtschaftlichen Bedingungen.

Dann ein zweites Mal, nachdem 1967 die ersten grossen Ölvorkommen in der Nordsee entdeckt worden waren. Norwegen gelang das Kunststück, die daraus folgenden Finanzmittel gesellschaftlich und wirtschaftlich nachhaltig zu verwalten und zu verteilen.

Nun steht dem nordischen Musterstaat eine dritte Neuerfindung bevor: Denn als einer der pro Kopf weltgrössten CO2-Verschmutzer der Bevölkerung muss es sich angesichts der eingegangen Klimaabkommen einmal mehr radikal umstellen.

Norwegen steht vor seinem bislang grössten Stresstest und tut sich damit, trotz symbolträchtiger Fortschritte bei der E-Mobilität, nicht nur beim Ausstieg aus dem Erdölzeitalter, sondern auch bei der Weiterentwicklung der Demokratie und in der Aussenpolitik überraschend schwer.

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