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Literatur aus Norwegen «Aus Norwegen kommen starke Stoffe»

Literatur aus Norwegen, dem diesjährigen Gastland an der Frankfurter Buchmesse, entwickelt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Die Nordistin Verena Stössinger erklärt, warum dies so ist.

Verena Stössinger

Nordistin und Journalistin

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Die 1951 in Luzern geborene Verena Stössinger ist studierte Nordistin. Sie arbeitet als Autorin und Lektorin und schreibt als freie Kulturjournalistin für verschiedene Medien.

SRF: Ihr Spezialgebiet ist norwegische Literatur. Sie haben also gerne melancholische und düstere Lektüre?

Es ist nicht die Melancholie, die mich an der norwegischen und generell an der skandinavischen Literatur anzieht, sondern ihre besondere Tiefe und Ernsthaftigkeit. Dass norwegische Literatur durchweg melancholisch sei, ist ein Klischee.

Trotzdem: Norwegen hat lange Winter mit kurzen Tagen und langen Nächten. Wie sehr prägt dies die Literatur?

Die lange Dunkelheit während des Winters hat die Erzählkultur sicher stark beeinflusst. An endlosen Abenden Geschichten zu erzählen oder zu hören, war lange Zeit das Einzige, was man tun konnte.

Hinzu kam, dass das Erzählen die Möglichkeit bot, die Naturgewalt, der man im hohen Norden ausgesetzt ist, fassbar zu machen. Diese alte Erzähltradition ist bis heute lebendig.

Was ist der grösste Unterschied zum literarischen Erzählen bei uns?

In Norwegen unterscheidet man viel weniger die sogenannt «wichtige» von «unwichtiger» Literatur. Auch volkstümliche Texte oder Kinderbücher haben einen hohen Stellenwert.

Auch muss es nicht immer gleich ein Roman sein: Kürzere Formen wie Erzählungen werden vom Publikum ebenfalls sehr geschätzt und gelten nicht als etwas Halbes.

Norwegen ist erst 1905 zu einem eigenständigen Staat geworden. Im 19. Jahrhundert gehörte es zu Schweden, vorher zu Dänemark. Wie wirkte sich dies auf die norwegische Literatur aus?

Der lange Kampf um die politische Eigenständigkeit verlieh der Literatur Dringlichkeit. Die Literatur spielte auch eine wichtige Rolle in diesem Prozess: Sie war ein Ort, wo man nationale Fragen verhandelte. Schriftsteller wie Ibsen standen im Rampenlicht. Und dies wirkt bis heute nach: Autoren werden von der Öffentlichkeit weit mehr wahrgenommen als bei uns.

Mann geht im Sonnenschein einem Ufer entlang.
Legende: Nicht nur die Winternächte sind in Norwegen lang, sondern auch die Sommertage. Getty Images / Kristina Strasunske

War auch die Sprache selbst betroffen von der nationalen Frage?

Und wie! In Norwegen gibt es bis heute zwei Sprachen: Die ältere, das sogenannte Bokmål, die Hauptsprache, ist dem Dänischen noch sehr ähnlich, zumindest in der schriftlichen Form.

Im 19. Jahrhundert schuf Ivar Aasen auf der Grundlage von norwegischen Dialekten dann eine zweite Sprache, die heute Nynorsk heisst. Es ging darum, Norwegen eine eigene Stimme und sprachliche Identität zu verleihen.

Die norwegische Literatur ist spätestens seit Jostein Gaarders «Sophies Welt» in den 1990er-Jahren auch im deutschsprachigen Raum zunehmend populär. Was zieht uns gerade an dieser Literatur an?

Wir spüren die Erzählkraft und die Kraft der Geschichten. Bei uns ist die Literatur oft viel kopflastiger. Aus Norwegen kommen starke Stoffe, die stark erzählt sind.

Die Literaturkritikerin Marta Norheim sagte einmal, in Norwegen beherrsche man zwei Dinge: Wintersport und Literatur. Die Freude am Erzählen und die Zuversicht gehört zu werden, schlägt sich in der Literatur nieder und überträgt sich auf uns Leserinnen und Leser.

Wie schafft es Norwegen mit seinen gut fünf Millionen Einwohnern, so viel gute Literatur herauszubringen?

Es gibt in Norwegen die Überzeugung, wonach gute Schriftsteller gute Schriftsteller hervorbringen. Tatsächlich hat Norwegen drei Literaturnobelpreisträger: Bjørnstjerne Bjørnson, Knut Hamsun und Sigrid Undset. Und dieser Erfolg färbt auf die nachfolgenden Autoren ab.

Mir fällt immer wieder auf, wie neugierig die Menschen auf die eigene Literatur sind. Da könnten wir in der Schweiz noch zulegen.

Aber auch auf die Gesellschaft generell, wo die Literatur einen hohen Stellenwert hat: So gibt es viel staatliche Förderung und drei professionelle Schreibschulen. Auch zeichnet Norwegen beispielsweise jedes Jahr einen «Kritiker des Jahres» aus.

Norwegen an der Frankfurter Buchmesse

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Norwegen ist ein Leseland: Im Schnitt liest jeder Norweger jährlich 15 Bücher. Das Land hat bislang drei Literaturnobelpreisträger hervorgebracht, und Autoren wie Karl Ove Knausgård oder Jo Nesbø veröffentlichen regelmässig Bestseller. An der Frankfurter Buchmesse, die am 16. Oktober eröffnet wird, ist Norwegen Ehrengast. Ein üppiges Programm bildet die norwegische Literatur- und Kulturlandschaft ab.

Was kann die Schweiz von Norwegen bei der Förderung der heimischen Literatur lernen?

Abgesehen von der grosszügigen Bibliotheks-, Verlags- und Autorenförderung fällt mir immer wieder auf, wie neugierig und stolz die Menschen auf die eigene Literatur sind. Da könnten wir bei uns in der Schweiz noch zulegen.

Was ist Ihr Lesetipp für Einsteiger in die norwegische Literatur?

Ich empfehle, irgendein Buch von Tomas Espedal zu lesen. Man kann mit der Lektüre beginnen, wo man will. Mit der Zeit verschränken und ergänzen sich die Texte.

Espedal schreibt assoziativ, klug und leicht. Es geht um sein Leben, seine Familie, die Stadt, die Liebe, das Trauern, das Schreiben. Es sind poetische und nachdenkliche Bücher, die einem Räume öffnen.

Das Gespräch führte Felix Münger.

Sechs Literaturempfehlungen aus Norwegen

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Zum Einstieg in Norwegens reiche Literaturlandschaft empfiehlt Literaturredaktor Felix Münger diese sechs Werke.

  • Henrik Ibsen: «Nora oder Ein Puppenheim» (Reclam)

Der 1879 uraufgeführte Theaterklassiker des norwegischen Meisters Henrik Ibsen handelt vom Freiheitskampf einer Frau aus der Bevormundung durch das Patriarchat. In Zeiten von MeToo von neuer, brennender Aktualität.

  • Knut Hamsun: «Hunger» (Claassen Verlag 2009)

Das 1890 erschienene Werk des späteren Literatur-Nobelpreisträgers Knut Hamsun erzählt die Geschichte eines erfolglosen und von materieller Not getriebenen Dichters – ergreifend und eindringlich.

  • Roy Jacobsen: «Die Unsichtbaren» (C.H. Beck 2019)

Die Romantrilogie des in Norwegen gefeierten Gegenwartsautors Roy Jacobsen rollt sprachlich brillant die norwegische Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf – an einer Frauenfigur, die auf einer Schären-Insel in Nord-Norwegen lebt.

  • Maja Lunde: «Die Letzten ihrer Art» (btb 2019)

Im dritten Band der auf vier Bände angelegten Romanreihe über die Folgen des Klimawandels ergründet Maja Lunde literarisch die Folgen des Artensterbens. Erneut verknüpft sie geschickt emotionale Geschichten von Menschen mit der globalen Umweltproblematik.

  • Erika Fatland: «Die Grenze» (Suhrkamp 2019)

Die Reiseschriftstellerin Erika Fatland erzählt von ihrem originellen Projekt, der ganzen Grenze Russlands entlang zu reisen: 20'000 Kilometer durch 14 Länder wie China, Kasachstan oder Georgien. Ein kenntnisreiches und kluges Buch über Begegnungen mit Menschen unterschiedlichster kultureller Prägung.

  • Tomas Espedal: «Das Jahr» (Matthes & Seitz 2019)

Das aktuelle Werk von Tomas Espedal besticht durch seine poetische Sprache, mit welcher der Autor die uralte Frage nach der ewigen Liebe aufwirft und dabei den ganze Fächer menschlicher Erfahrung öffnet: Verlust, Altern, Verzweiflung, Tod – und Heilung.

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