Alles beginnt harmlos, meist in der Anfangszeit im Kloster. Die Novizinnen oder Anwärterinnen aufs Ordensleben seien in dieser Zeit «wie verliebt», sagt Theologin Barbara Haslbeck, die seit 25 Jahren über sexuellen Missbrauch im kirchlichen Kontext forscht. Gleichzeitig haben die jungen Ordensangehörigen viele Fragen.
Und dann ist da ein Priester, der ein offenes Ohr hat. Der der Novizin als Beichtvater zugeteilt ist. Oder als Berater in geistlichen Fragen. Die Gespräche sind intim, die Ordensfrauen vertrauen dem Würdenträger, öffnen sich, werden verletzbar, erklärt Barbara Haslbeck. «Dieses Verhältnis wird dann schleichend durch den Täter sexualisiert.»
Gewalt dauert oft über Jahre bis Jahrzehnte
Für eine neue Studie hat die Theologin 15 Frauen befragt – die erste derartige Studie im deutschsprachigen Raum. Diese berichten darin, wie die Täter sie zunächst einfach berührt hätten, an der Hand. Die Füsse gewaschen. Oder einer bei einer Kurve plötzlich «auf mir draufgelegen» sei. Aus den anfangs harmlos scheinenden Berührungen werden dann sexuelle Übergriffe, die manchmal Jahrzehnte andauern.
Wehren tun sich die wenigsten. Die Täter geben den Frauen das Gefühl, alles sei in Ordnung. Um über Sexualität zu reden, fehlen den Ordensfrauen die Worte. Dem Priester zu widersprechen oder für sich selbst einzustehen, wagen sie oft nicht. «So entstehen Situationen mit extremen Schuld- und Schamgefühlen, die über lange Zeit andauern können», sagt Barbara Haslbeck.
Sexualisierte Gewalt durch Frauen – ein Tabu im Tabu
Die Forscherin geht davon aus, dass Frauen in Klöstern überdurchschnittlich oft von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Und: Dass die Frauen oft schon in ihrer Kindheit sexuelle Übergriffe erlebt haben und die Täter das ausnutzen.
Die Mehrheit der Täter sind auch im Kloster Männer. Aber: Es gibt auch Täterinnen. Meist Vorgesetzte, etwa Oberinnen oder Schwestern, die für die Novizinnen zuständig sind. Sie missbrauchen ihre Macht, um sich sexuell zu befriedigen.
«Es geht um erheblichen sexuellen Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen», schildert Barbara Haslbeck. «Der Missbrauch von Ordensfrauen an Ordensfrauen ist ein Tabu im Tabu.» Umso wichtiger sei es, dass die Aufarbeitung jetzt beginne.
Massnahmen zur Prävention – auch in Schweizer Klöstern und Orden
Barbara Haslbeck rät den Ordensgemeinschaften, klare Regeln für die geistige Begleitung aufzustellen, das Thema Sexualität zu enttabuisieren und Hierarchien klar zu regeln und abzubauen. Das gelte für alle Arten von Gemeinschaften – auch für solche, die überaltert sind und keine neuen Mitglieder aufnehmen.
Für die Schweizer Ordensgemeinschaften hat die Studie eine besondere Relevanz. Denn die Frauenorden sind jüngst aus dem Dachverband der Ordensgemeinschaften ausgetreten, um die Missbrauchsstudie nicht mitfinanzieren zu müssen. Ihre Argumentation: Die Ordensschwestern seien Betroffene, nicht Täterinnen. Die neue Studie gibt Anlass, diese Haltung zu hinterfragen.