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Neue Pilotstudie Missbrauch in römisch-katholischer Kirche: Studie zeigt Ausmass

  • Für eine Schweizer Pilotstudie untersuchten Historikerinnen und Historiker schweizweit die Archive der römisch-katholischen Kirche – mit besonderem Augenmerk auf sexuelle Übergriffe. Die Untersuchung konnte von 1950 bis heute 1002 Missbrauchsfälle identifizieren.
  • In 39 Prozent der Fälle war die betroffene Person weiblich, in knapp 56 Prozent männlich. Bei fünf Prozent konnte das Geschlecht nicht eindeutig geklärt werden. Drei Viertel der Fälle zeugen von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen.
  • Bei den Beschuldigten handelt es sich bis auf wenige Ausnahmen um Männer. Die meisten Fälle wurden nicht aufgeklärt, sondern verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert.

Die Pilotstudie , welche die Universität Zürich am Dienstag präsentiert hat, ist ein Meilenstein. Sie liefert erstmals klare Zahlen zu Fällen sexuellen Missbrauchs. Die Untersuchungen wurden im Auftrag der römisch-katholischen Kirche durchgeführt, wobei erstmals Archive der Bistümer und Orden in der ganzen Schweiz unter die Lupe genommen wurden.

Hintergründe zum Pilotprojekt

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Im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz, dem Zusammenschluss aller römisch-katholischen Landeskirchen und den Ordensgemeinschaften untersuchten Historikerinnen und Historiker unter der Leitung von Monika Dommann und Marietta Meier der Universität Zürich zum ersten Mal die Archive der römisch-katholischen Kirche in der ganzen Schweiz. Besonderes Interesse galt den sogenannten Geheimarchiven der Bistümer sowie den Archiven der kirchlichen Fachgremien für sexuelle Übergriffe.

Von Mai 2022 bis April 2023 verschafften sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Überblick über den Zustand der Archive, wie es um die Quellenlage steht, in welchem Ausmass Akten vernichtet oder Fälle von sexuellem Missbrauch vertuscht oder aufgearbeitet wurden.

Ein exemplarischer Fall

Die Studie befasst sich unter anderem mit dem Fall des Priesters G.A. Dieser steht exemplarisch für den unprofessionellen Umgang von Kirchenverantwortlichen mit Beschuldigten. Im Fall von G.A. handelt es sich sogar um einen verurteilten Missbrauchstäter. Zu strafrechtlichen Verfahren kam es nur selten.

Gemäss Gerichtsdokumenten sollen es mindestens 67 Kinder gewesen sein, die der Priester G.A. ab den 1950er-Jahren sexuell missbraucht hat. Zweimal wurde er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Verantwortlichen der römisch-katholischen Kirche sorgten jedoch dafür, dass er im Amt bleiben konnte und bis kurz vor der Jahrtausendwende in verschiedenen Pfarreien als Seelsorger wirkte. Sie nahmen so weitere Opfer in Kauf, statt diese zu schützen.

Eine «betrübliche Sache» wird verheimlicht

Als G.A. während seiner Anstellung in einer Innerschweizer Gemeinde wegen «Unzucht mit Kindern» die erste bedingte Gefängnisstrafe mit fünf Jahren Bewährungsfrist bekam, schrieb ein Pfarrer an den damaligen Bischof von Chur:

«Das ging wie ein Feuer durchs Dorf und ich habe am Sonntag drauf von der Kanzel aus so gut ich konnte, Stellung genommen. Das muss gewirkt haben, denn auf einmal wurde es still. Auch habe ich meine Einstellung, die betrübliche Sache zu verheimlichen und zu unterschlagen, begründet und man hat es begriffen. Das war ein schwerer Sonntag.»

Weisse Priestergewänder hängen an Kleiderbügeln an einer Stange in einer alten Kirche.
Legende: Keine weisse Weste: Die Pilotstudie der Universität Zürich zeigt, dass die römisch-katholische Kirche über Jahre hinweg eigene Interesse über das Wohl und den Schutz von Gemeindemitgliedern stellte. Getty Images / Tim Bieber

G.A. musste nach seiner Verurteilung zwar die Gemeinde verlassen, offiziell aus «Gesundheitsgründen». Doch die Verantwortlichen suchten fleissig eine neue Stelle für ihn, wenn auch ohne viel Erfolg. Die neuen möglichen Gemeinden wussten Bescheid und protestierten gegen eine Anstellung von G.A.

So wurde er schliesslich vom Bistum Chur ins Bistum Basel versetzt. Der Bischof schreib in einem Brief an G.A.: «Nach einiger Zeit, wenn die fünf Jahre vorbei sind, können Sie zurückkehren.»

Versetzt statt kirchenrechtlich verfolgt

Der Fall von G.A. steht laut Pilotstudie der Universität Zürich exemplarisch dafür, wie die römisch-katholische Kirche über viele Jahre hinweg problematische Priester geschützt und Fälle von sexuellem Missbrauch vertuscht hat.

Aufgrund der Studie wird klar, dass ein häufig angewendetes Mittel dafür die Versetzung eines Priesters innerhalb der Schweiz war. Am neuen Ort wurden die Verantwortlichen nicht immer über die Vergangenheit eines problematischen Priesters wie G.A. aufgeklärt.

Drei Fragen an den Studienmitautor

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Lucas Federer ist Historiker an der Universität Zürich und Studienmitautor.

SRF: Was waren die grössten Hürden für die Forschungsarbeit?

Lucas Federer: Eines war sicher die Heterogenität der bischöflichen Archive. Die Professionalisierung unterscheidet sich teilweise massiv zwischen den Bistümern. So mussten wir teilweise eng mit den Archivarinnen und Archivaren zusammenarbeiten, weil nur sie die innere Logik der Archive kannten. Im Bistum Chur oder Basel hingegen gibt es eine moderne Infrastruktur mit digitalen Verzeichnissen, so dass wir selbstständig arbeiten konnten.

Haben Sie in den Archiven auch Hinweise bekommen für Fälle rund um amtierende Bischöfe oder Priester?

Sie sprechen sicher die am Sonntag publik gewordenen Vorwürfe durch Nicolas Betticher an. Wir wurden Ende 2022 mündlich über diese Vorwürfe informiert. Die meisten der Fälle waren uns aus den Archiven bereits bekannt. Aber wir nutzen die Hinweise, um weitere Archivbestände zu konsultieren. Nach Abschluss des Pilotprojekts war klar, dass die Fälle nach Rom gemeldet wurden. Ob, wann oder wer Fehler gemacht hat, können wir im Rahmen der Pilotstudie noch nicht abschliessend beantworten. Und: Als historische Forschungsgruppe schreiben wir keine juristischen Gutachten, sondern untersuchen die strukturellen Gegebenheiten von sexuellem Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche. 

Sie haben sich intensiv mit diesen Fällen sexualisierter Gewalt auseinandergesetzt. Was hat das mit Ihnen persönlich gemacht?

Wenn man zu sexuellem Missbrauch forscht, gibt es immer belastende Momente. Der Austausch im Team war diesbezüglich wertvoll, um nicht allein damit zu sein. Zukünftig wird es wohl eine Supervision geben, um diese Momente und auch das eigene Verhalten reflektieren zu können. Ich bin der Meinung, dass wir es als Historikerinnen und Historiker oft mit schwierigen Geschichten und menschlichen Abgründen zu tun haben. Dazu gehört auch, dass wir eine gewisse Distanz zum Forschungsgegenstand aufrechterhalten können oder sogar müssen.

Hinzu kommt: Die Verantwortlichen verzichteten häufig darauf, einen Fall wie den von G.A. an die Glaubenskongregation in Rom zu melden. Im Bischöflichen Archiv des Bistums Basel belegt dies ein Brief im Personaldossier von G.A., verfasst von einem Domherren: «Der Fall müsste nach Kirchenrecht nach Rom gemeldet werden. Wir tun das gewöhnlich nicht, damit die Priester nach Verbüssen der Strafe leichter wieder irgendwo verwendet werden können.»

Spezifisch katholische Probleme

Über viele Jahre hinweg stellte die römisch-katholische Kirche im Bereich des sexuellen Missbrauchs eigene Interesse über das Wohl und den Schutz von Gemeindemitgliedern. Das macht die Pilotstudie deutlich, auch wenn sie nur einen kleinen Teil der Fälle erfassen konnte.

Ausserdem macht die Studie auf spezifische Probleme aufmerksam, die Missbrauch im römisch-katholischen Umfeld begünstigen. Sie betont, dass «theologisch zentrale und auch kirchenpolitisch emotional besetze Themen wie die römisch-katholische Sexualmoral, die Stellung von Priestern, inklusiv des Zölibats, oder auch das Sakrament der Beichte müssen im Sinne der Prävention von sexuellem Missbrauch zwangsläufig thematisiert und (…) angepasst werden, da sie einen wichtigen Teil des Manipulationspotenzials innerhalb der kirchlichen Strukturen ausmachen».

Weitere Forschungsarbeit nötig

Die Pilotstudie kommt im Vergleich mit anderen Ländern reichlich spät. Ein Anfang ist nun aber gemacht, die berühmte Spitze des Eisbergs ist sichtbar geworden. Um das ganze Ausmass zu erfassen, braucht es weitere Forschung. Diese ist für die Jahre 2024 bis 2026 bereits zugesagt.

Radio SRF 1, HeuteMorgen, 12.9.2023, 6:00 Uhr

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