«Bitte schauen Sie nach oben, damit ich in Ihre Nase sehen kann», sagt die Aufseherin. Sie steht anderthalb Meter von mir entfernt in einem Raum des Gefängnis Zürich West. Hinter ihr sind frische Gefängniskleider aufeinandergestapelt: Unterhosen, Tops, Unterhemden, graue Pullover und schwarze Jogginghosen. Ich hingegen habe mich ausziehen müssen. Im Vorhinein habe ich dazu eingewilligt.
Mit nacktem Oberkörper – ohne BH – folge ich den Anweisungen. «Sehr gut, bitte öffnen Sie den Mund», fährt mein Gegenüber fort. Ich rolle die Zunge hoch. Dann strecke ich meine Arme aus, zeige meine Hände. Die Aufseherin fasst mich nicht an. Nur über Blicke kontrolliert sie, ob ich nichts in Gefängnis hineinschmuggle.
19 Stunden im Gefängnis
Das Gefängnis Zürich West eröffnet Anfang April. Zuvor wird der Betrieb mit Freiwilligen getestet. Angemeldet haben sich über 800 Frauen und Männer. Ausgewählte unter ihnen können beim Probelauf mitmachen. Einige bleiben ein paar Stunden, andere mehrere Tage. Den Versuch können sie jederzeit abbrechen. Meine Haft beginnt abends um 20 Uhr und dauert bis 15 Uhr am nächsten Tag.
Nach der Leibesvisitation werde ich in einen Warteraum geführt. Es ist ein hohes, weisses Zimmer ohne Fenster. Nur eine Toilette steht drin. Die Aufsichtsperson schliesst die Eingangstür hinter mir ab.
Auch die Türe vor mir ist zu. Der fensterlose Raum löst bei mir schon nach wenigen Minuten Unbehagen aus. Zwar habe ich keine Platzangst, doch mein Herz schlägt schneller. Wird es in der richtigen Zelle auch so sein?
Zelle Nummer 163
Zehn Minuten später bringt mich ein Aufseher zu meinem Wohntrakt. Ein kahler Gang mit weissen Türen. Vor einer Zelle bleibt er stehen. Nummer 163. «Sie sind in einer Einzelzelle», sagt der Aufseher beim Öffnen der Tür, «zumindest bis jetzt».
Tatsächlich stehen zwei Betten da. Der Raum ist überraschend geräumig und wirkt modern. Mit meiner Vorstellung von einer engen Gefängniszelle aus Filmen hat er wenig gemein. Das Fenster hat kein Gitter, aber auch keinen Griff. Die Toilette lässt sich mit einer Tür schliessen.
Impressionen aus der Zelle
In diese Zelle kommen später Männer und Frauen, welche von der Polizei festgenommen wurden. Diese sogenannte Polizeihaft dauert maximal 96 Stunden. Danach kommen die Inhaftierten entweder frei oder in Untersuchungshaft.
«Dies kann beispielsweise jemand sein, der verdächtigt wird, einen Bankomaten gesprengt zu haben», sagt Marc Eiermann, der Leiter des neuen Gefängnisses. Oder eine Autofahrerin, die nach einem schweren Unfall Fahrerflucht begangen haben soll.
124 Plätze für männliche und weibliche Verdächtige gibt es im Gefängnis Zürich West. In der Untersuchungshaft können weitere 117 Männer aufgenommen werden. Damit gehört das Gefängnis zu den grössten der Schweiz.
Was tun mit der Zeit?
In meiner Zelle ist auf dem Fernseher der Tagesablauf ersichtlich. «Leider ist das Spazieren schon vorbei», erklärt mir der Aufseher. «Duschen dürfen Sie erst morgen wieder.» Als Nächstes steht die Nachtruhe um 22 Uhr an.
Was tun mit der Zeit bis zum Einschlafen? Zuerst beziehe ich mein Bett mit einem weissen Papiertuch, wie es Ärzte auf ihren Liegen einsetzen. Danach zappe ich mich durch Fernsehsendungen. Nur für ein paar Minuten. Ich blättere in einem Roman, den ich ausleihen durfte. Wieder nur ein paar Minuten. Ruhelosigkeit beschleicht mich, die Zellentür ohne Klinke irritiert.
Plötzlich klopft es, der Schlüssel dreht sich. Ein Aufseher bringt mir in einem schwarzen Plastiksack meine Strassenkleider: Mantel, Pullover, T-Shirt, Hosen, Unterwäsche. Der Gurt ist aus Sicherheitsgründen nicht dabei.
Reizarme Umgebung soll beruhigen
«Die Suizidrate ist in den ersten drei Tagen der Haft sehr hoch», weiss Leena Hässig. Die Psychologin hat über 30 Jahre lang in Schweizer Gefängnissen gearbeitet. «Viele inhaftierte Personen leiden unter dem abrupten Kontaktabbruch.» Die Fragen rund um Anwälte, ihre Familie, Freunde oder medizinische Angelegenheiten belasten.
«Hat jemand ein Delikt verübt, hat er oder sie meist Schuldgefühle», sagt auch Gefängnisleiter Marc Eiermann. Wer unschuldig ist, sei wiederum häufig verzweifelt. «Deshalb ist es wichtig, dass die Umgebung relativ reizarm ist.» So können inhaftierte Personen zur Ruhe kommen. Gleichzeitig werfe es die Männer und Frauen auf sich selbst zurück.
Geweckt wird man per Durchsage
Am Morgen werde ich um 5 Uhr geweckt. Eine Zimmernachbarin kommt. Während sie das Bett bezieht, knistert das weisse Laken. Nach einigen Drehungen im Halbschlaf kommen wir ins Gespräch. Aus Neugier mache sie beim Testbetrieb mit, sagt die 50-Jährige: «Was geschieht mit mir, wenn ich eingesperrt bin? Und was löst es aus, wenn mir ein strenger Zeitplan auferlegt wird?» Wie geregelt der Tagesablauf ist, zeigt uns ein Blick auf den Fernseh-Bildschirm:
- 6:45 Uhr: Weckruf (es kommt eine Durchsage per Lautsprecher)
- ab 7:15 Uhr: Frühstück (es gibt Brot, Butter, Konfitüre, Kaffee, Milch)
- ab 8:30 Uhr: Es werden Bücher, Snacks, Zigaretten verteilt (Rauchen ist in der Zelle möglich)
- 10 Uhr bis 11 Uhr: Duschen (es gibt einen Gemeinschaftsraum)
Gesellschaft hilft – aber nicht immer
Nur zum Duschen verlassen wir am Vormittag unsere Zelle. Ansonsten sitzen wir auf unseren Betten. Lesen, schweigen, reden. Die Gesellschaft hilft beim Zeitvertrieb.
Die soziale Interaktion sei für richtig Inhaftierte wichtig. Doch eine Zimmernachbarin oder ein Zimmernachbar könne auch Stress auslösen. «Im Realbetrieb wissen Sie, dass die andere Person offenbar etwas angestellt haben könnte», sagt Marc Eiermann. Nur was, bleibt häufig im Dunkeln.
Laut dem Leiter des Gefängnisses Zürich West tauschen sich die Inhaftierten kaum über ihre Haftgründe aus. «Sie wissen also nicht, ob die andere Person eine Kreditkarte geklaut oder sein Kind getötet hat.» Solche Vorstellungen schmücke die Fantasie in der Haft gerne aus.
Der Gefängnishof auf dem Dach
Vor dem Ende meines Aufenthaltes ist endlich Zeit für Bewegung. Um 13:15 Uhr gehe ich mit anderen Frauen auf den Spazierhof. Er gleicht mit seinem grünen Gummibelag und den Pingpong-Tischen einem Sportplatz. An den Betonwänden hängen Stangen für Klimmzüge.
Aussergewöhnlich ist die Lage des Spazierhofes: zuoberst auf dem Dach. «Wir haben ihn aufgrund der innerstädtischen Situation und dem fehlenden Umfeld so platziert», sagt Stefan Adler vom Architekturbüro Theo Hotz Partner AG. Übers Gebäude verteilt gibt es mehrere solche Höfe.
Anderthalb Stunden können sich inhaftierte Personen hier bewegen. Ist das nicht zu wenig? «Das Gesetz gibt eine Stunde täglich vor», erwidert Gefängnisleiter Marc Eiermann. Es sei geplant, die Zeit im Spazierhof für vorläufig Festgenommene auszuweiten. Wer in Untersuchungshaft ist, soll mehrere Stunden aus seiner Zelle dürfen.
Punkt 15 Uhr. Meine Testzeit endet. Eilig streife ich die Gefängniskleider ab und schlüpfe in mein gewohntes Tenue. Bei der Gepäckrückgabe erhalte ich meinen Gurt zurück, aufgerollt liegt er im Rucksack. «Geht es in die Freiheit?», fragt mich der zuständige Gefängnisaufseher. «Zum Glück», antworte ich.