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Aufnahme aus Vogelperspektive: Eine Joggerin läuft über Pflastersteine.
Legende: Joggen ist nicht mehr nur Privatsache. Es geht auch um Prämien. Keystone

Optimiertes Selbst Lauf um dein Leben

Joggen ist Volkssport, in Parks wird es eng. Laufen fühlt sich ja auch wirklich toll an. Aber wird die Körperertüchtigung bald zum Befehl, wenn wir unsere Daten den Krankenkassen zuspielen und die Privatsphäre aufs Spiel setzen? Eine teilnehmende Beobachtung der Vermessung unserer Freizeit.

Als die Zahl 30 hinter und der Bauch vor mir lag, wurde ich Läufer. Vor etwa 15 Jahren ging es los auf einer wunderschönen Strecke in Zürich, stadtauswärts der Limmat entlang.

Eine Joggerin auf einem Laufweg entlang der Limmat.
Legende: Ein seltenes Vergnügen: allein an der Limmat laufen. Keystone

Mit der Zeit herrschte an manchen Tagen dichter Verkehr – Joggerinnen, Velofahrer, Hundehalterinnen und Fussgänger fanden den Weg am Wasser alle gleich schön. Dann bin ich nach Berlin gezogen, in eine Stadt mit riesigen Grünanlagen.

Zugestöpselt, atmungsaktiv

Selbst im Volkspark Friedrichshain sah ich auf einmal Kolonnen von Menschen in atmungsaktivem Kunststoff. Als das Smartphone und Kopfhörer dazu kamen, fing das fitte Menschenmeer auch noch an zu schwanken. Überholen ging nur noch mit grosszügigem Sicherheitsabstand, weil die zugestöpselten Läufer niemanden herannahen hören. Manche joggten zudem einen Schlingerkurs, weil der Gleichgewichtssinn auch im Ohr wohnt.

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Tobi Müller ist ein Schweizer Kulturjournalist, Moderator und wohnt in Berlin.

Doch wer spricht eigentlich in den Muscheln? Mal ist es tatsächlich der Mitarbeiter, da die Chefin Sport und Büro nicht unterscheiden kann (oder will). «Setzen Sie Gohlke in die Kopie, sonst will der wieder von nichts gewusst haben. Bitte? Keine Sorge, hier bellt kein Kampfhund, da drüben trainiert grad eine Männergruppe.»

Oft gibt bloss Musik die Schrittfolge vor, als Ansporn. Oder als Ablenkung, denn Naturgeräusche stören offenbar viele, die Schritte der Anderen nerven erst recht. Zumindest akustisch lässt sich Dichtestress vermeiden: Man ist beim Laufen gerne so alleine wie im Auto.

Ein Jogger mit Kopfhörer bindet sich die Schuhe.
Legende: Ständiger Begleiter beim Joggen: Kopfhörer und Smartphone. Imago/Westend61

Wir vermessen uns selbst

Seit ein paar Jahren spricht noch jemand Anderes zu uns, wenn wir laufen. Nennen wir die Stimme «Big Brother», in den Einstellungen der App gibt es optional auch eine «Big Sister». Es ist eine Stimme, die uns antreibt, ermutigt, und: überwacht.

Es ist die Stimme der Quantified-Self-Bewegung, der freundliche Befehl der Selbstoptimierung, die sich im Digitalen durchsetzt wie nie zuvor. Wir vermessen uns selbst, hinterlassen Datenspuren und folgen ihnen durch unsere Freizeit.

Eine Stunde Joggen für Publikum

Als Selbstversuch lade ich mir eine Fitnessapp auf das Telefon und ziehe los. Die Stimme, es ist eine Frau, sagt mir, wie weit ich bereits gelaufen bin. Sie feuert mich an. Ich übermittle meine Geodaten direkt an Facebook, man kann mir folgen.

Sendehinweis

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Apps zur Vermessung des Körpers und Präparate zur Steigerung der Leistung: Ist die Selbstoptimierung das grosse Projekt unserer Zeit? Diese Frage stellt die «Sternstunde Philosophie» am 19.11.2017 um 11 Uhr auf SRF 1.

Nach all den Jahren laufe ich zum ersten Mal für ein Publikum – frische Luft, totale Unerreichbarkeit und ein gutes Körpergefühl waren mir stets wichtiger als der Wettbewerb eines Volkslaufes. Schon überlege ich mir, ob ich den Berg – oder was man in Berlin dafür hält: ein Berg aus Trümmern aus dem Krieg –, ob ich da wirklich hochrennen soll oder ob der Höhenunterschied die Statistik versaut.

Kann ich kurz pausieren und etwas dehnen, oder muss ich dazu schon wieder am Telefon fummeln? Nach einer Stunde höre ich auf.

Am nächsten Tag gesteht ein Freund, er habe sich dabei ertappt, meine ja nun öffentliche Leistung zu bewerten. «So mittel», sagt er etwas verschämt.

Den angezeigten Kalorienverbrauch hat er nicht kommentiert. Darüber will mein Fitnessstudio immer mal wieder etwas wissen. Das besuche ich, seit ich es mit dem Laufen übertrieben habe und nun Ausdauer mit Kraft kombiniere.

In den 80ern wurde dagegen protestiert

Vor 30 Jahren hätte man das nie freiwillig getan und jeden für verrückt erklärt, der sich die Zukunft so ausgemalt hätte. Wir geben heute private Daten freiwillig preis, die in den 1980er-Jahren die Bevölkerung auf die Strasse trieb. Sei es, um gegen Volkszählungen zu demonstrieren, sei es um gegen die massive Überwachung der Geheimpolizei ein Zeichen zu setzen.

Diese flog in der sogenannten Fichenaffäre im Herbst 1989 auf. Im Verlauf von gut 40 Jahren hatte die Bundespolizei von rund 900'000 Personen Akten erstellt. In diesen «Fichen» waren die Überwachungsberichte verzeichnet. Vieles war hanebüchen und harmlos, Anderes hat Karrieren von Linken zerstört.

Vom Fichenskandal zur Fitnessapp

Das Ausmass der Überwachung war so enorm, dass im Herbst 1989 für kurze Zeit ein überparteilicher Konsens bestand, so könne es nicht weitergehen. Selbst konservative Kräfte kriegten das Kotzen.

Nationalrat Moritz Leuenberger und Nationalrätin Josi Meier
Legende: Nationalrat Moritz Leuenberger und Nationalrätin Josi Meier präsentieren den PUK-Bericht zur Fichenaffäre (Nov. 1989). Keystone

Der damalige Präsident der parlamentaischen Untersuchungskommission (PUK) und spätere Bundesrat Moritz Leuenberger erzählte mir kürzlich, dass auch die rechtsbürgerlichen PUK-Mitglieder Angst hatten, überwacht zu werden. So traf sich die Kommission jedes Mal an einem neuen, geheimen Ort.

Heute stellen wir vergleichbare Informationen, wie sie die Geheimpolizei gesammelt hatte, selbst ins Netz. Wo wir wohnen, wo wir hinfahren, was wir essen, wie schnell wir rennen. Und was wir konsumieren – vielleicht «abends gerne ein Bier»?

So lautete ein Ficheneintrag über eine linke Schweizer Politikerin. Harmlos? Nun, das war ein Code für: Die Frau habe ein Alkoholproblem.

Zwischen dem Fichenskandkal von 1989 und heute liegt ein grundlegender Kulturwandel. Er hat womöglich erst begonnen. Die Selbstvermessung unserer Freizeit dient nicht mehr nur sozialen Funktionen und ist mehr als die tägliche Dosis Narzissmus. Jetzt geht es um die Gesundheit – und um Geld.

Drei ältere Luzerner Männer in Jogging-Anzügen stretchen ihre Arme.
Legende: Laufen als reines Freizeitvergnügen: Ist das noch zeitgemäss? Keystone

Per Armband verschicken wir Daten

Big Data hat den Fitnessmarkt entdeckt. Darum tragen wir sogenannte Wearables beim Joggen, manche auch schon beim Schlafen. Wearables sind zum Beispiel Fitnessarmbänder, die nicht nur die Strecke, sondern auch den Puls oder gar den Blutdruck messen und die Daten direkt an Dritte weiterspielen.

Sie landen zum Beispiel bei Runtastic, der Fitnessapp, mit der ich ein paarmal versuchsweise gelaufen bin. Täglich erinnert mich Runtastic daran, was ich essen soll und was nicht, wie ich meine Leistung steigern kann und welche Übungen im Büro hilfreich wären. Runtastic hat heute schätzungsweise eine Milliarde Euro Marktwert und ist in Europa eine der bekanntesten Marken der Quantified-Self-Bewegung.

Die Krankenkasse schaut zu

«Quantified Self», das vermessene Selbst: Die deutsche Übersetzung bringt das Problem auf den Punkt. Vermessen lässt sich im Sinn von gezählt oder zählbar lesen, aber auch als vermessen im Sinne von sich selbst überhöhend.

Die Gesundheits-App von Helsana auf einen Smartphone.
Legende: Wer mehr joggt, zahlt weniger? Krankenkassen bieten eigene Apps an. Keystone

Bedroht diese Betonung der eigenen Leistung am Ende einen Grundgedanken der Demokratie: die Solidarität, zum Beispiel für Schwächere, Ältere, Kranke?

Was nach Science Fiction klingt, hat in der Schweiz begonnen, seit vier Krankenkassen ihren Kunden Verbilligungen anbieten, wenn sie ihr Fitnessverhalten über Gesundheitsapps offenlegen. Bisher ist das erst bei Zusatzversicherungen möglich.

Aber der Versuchsballon ist in der Luft. Er schaut uns von oben zu, wie wir laufen, radfahren, trainieren und wie unser Herz das aushält.

In extremen Fällen weiss das unsichtbare Auge, wie viel wir schlafen und was wir essen, wenn wir nicht schlafen können. Vor einigen Jahren hätte man diese Form der Totalüberwachung für ein billiges Drehbuch gehalten. Heute schreibt es die Realität.

Vorläufer ist bereits 40 Jahren alt

Der Laufboom ist aber älter als die Digitaliserung im Taschentelefon. «The Complete Book of Running» von James F. Fixx war 1977 der erste Bestseller der Gattung Laufbücher. Im Kern steht bei Fixx alles, was noch heute in jedem Laufbuch zu finden ist, das ich kenne.

Erstens: die Sehnsucht, die Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen, das heisst, sie zu privatisieren. Das ist der neoliberale Hintergrund auch der aktuellen Idee des Quantified Self – mehr Selbstverantwortung, weniger Staat, auch in der Gesundheit.

Zweitens: Laufen ist meditativ und öffnet die Sinne, schärft die Wahrnehmung. Davon ist heute nicht mehr viel zu bemerken, wenn die Sinne und Wahrnehmung von einem Server aus reguliert werden.

Beine von Joggern und Joggerinnen, die dicht beieinander laufen.
Legende: Ich jogge, du joggst, wir joggen... Laufen ist längst Volkssport. Keystone

Richtig erholen ist die grosse Kunst

Klar gibt es auch zur Vermessung des Selbst heute einen Gegentrend. Verreisen ohne Telefon, Wandern «unplugged», ein Yoga Retreat im Urwald oder, zur Not, das Achtsamkeitsseminar im Wellnesshotel, wo das Rauschen des Bambushaines halt vom Band kommt.

Nur: Auch Entschleunigung ist eine Form der Selbstoptimierung. «Om» oder «Run!», in beiden Fällen wollen wir unser Leben selbstbestimmt ändern. Vielleicht sollten wir aber auch wieder lernen, uns vor diesem Leben zu erholen.

Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 19.11.2017, 11.00 Uhr

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