Es gibt Momente, in denen die Welt für einen Augenblick aufhört, Kulisse zu sein. Norwegen-Auswanderer Stefan Riedener erzählt von einem solchen Abend an der norwegischen Küste: rotes Licht über dem Meer, Wanderfalken am Himmel. In solchen Augenblicken, sagt er, zeigt sich etwas Wertvolles, das grösser sei als er selbst. Und, so seine Vermutung, genau hier liegt der Ursprung aller Ethik: nicht in Regeln, sondern in Begegnungen mit dem Wertvollen.
Riedener studierte Mathematik, Literatur und Philosophie in Zürich und Oxford. Heute ist er Professor an der Universität Bergen und erreicht mit seinen philosophischen Texten ein Fachpublikum. Er träumt davon, einen Text zu schreiben, der Menschen bewegt und dazu anregt, ihr Leben neu auszurichten. «So etwas kann man nicht am Schreibtisch entwerfen», sagt er. Man muss erst leben, um schreiben zu können. Und leben heisst für ihn: offen sein für das Unverfügbare. Es geschieht – oder es geschieht nicht.
Anleitung für ein besseres Leben
Diese Haltung zieht sich durch Riedeners Biografie. Seine Entscheidungen wirken radikal: Er lebt mit seiner Familie auf einem Bauernhof in Norwegen und versucht, dauerhaft zehn Prozent seines Einkommens zu spenden. Diese Entscheidungen sind Ausdruck seiner Suche nach Antworten auf die Frage «Wie soll ich leben?». Eine Frage, die für ihn nicht einfach einem Ritual zu Neujahr entspringt, sondern ihn permanent begleitet.
Die westliche Philosophie bietet Orientierung, wie man ein besserer Mensch werden kann, aber sie hilft oft nicht, diesen Weg zu beschreiten, so Riedener. Ein Mangel, den er als schmerzlich empfindet. Er glaubt, dass die Philosophie direkter auf die Allgemeinheit einwirken kann, wenn sie eine neue Form findet. Auf sein Leben hat sie bereits einen grossen Einfluss. Diesen gleicht er jedoch regelmässig mit seinem persönlichem Erleben ab.
In Oxford war Riedener beispielsweise tief beeindruckt vom «Effektiven Altruismus», von Menschen, die versuchten, ihr Leben konsequent am grösstmöglichen Nutzen für die Welt auszurichten. Doch später begann er, sich von dieser Bewegung zu lösen. Vater zu werden, veränderte seinen Blick. Theorien, die verlangen, jede Handlung ausschliesslich nach ihrer maximalen Wirkung zu bewerten, erschienen ihm plötzlich unmenschlich. Heute ist es ihm wichtiger, Entscheidungen aus seiner Biografie heraus zu treffen, als die Perspektive des Universums zu übernehmen.
Dauerhaft flexibel bleiben
Dabei ist die Philosophie von Iris Murdoch zentral für ihn. Murdoch beschreibt Moral nicht als Rechenaufgabe, sondern als Schule der Aufmerksamkeit. Diese jenseits des eigenen Egos zu entwickeln, ist für Riedener eine Lebensaufgabe.
Vielleicht liegt genau darin Riedeners Verständnis des guten Lebens: Lebensentscheidungen sind für ihn kein Endpunkt, sondern eine Form der Offenheit. Sie entstehen aus Begegnungen, aus Momenten der Aufmerksamkeit, und bleiben revidierbar. Entscheiden heisst in diesem Sinn nicht, etwas abzuschliessen, sondern bereit zu bleiben für Veränderung.