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Philosophie als Lebenshilfe Leben mit dem Abgrund: Wie uns Philosophie trösten kann

Wie kommen wir möglichst gelassen durch das Leben? Antike Weisheiten aus Krisenzeiten können uns helfen, mit schwierigen Erfahrungen fertigzuwerden, sagt der Philosoph Martin Ebeling.

Martin Ebeling

Philosoph

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Martin Ebeling ist Philosoph und leitet das Businessprogramm der «School of Life» Berlin. Er ist Vater eines Kindes und lebt in Berlin.

SRF: Martin Ebeling, kann man von der Pike auf lernen, zufriedener zu leben?

Martin Ebeling: Es wäre doch schlimm, wenn nicht? In den klassischen Bildungsinstitutionen lernt man es allerdings nicht. Diese vermitteln lediglich Weltbeherrschungskompetenzen: Wie wir einen Elektromotor bauen, wie wir zum Mond fliegen. Aber nicht, wie wir ein erfülltes Leben leben, in Harmonie mit anderen und uns selbst.

Illustration eines Fadens, der durch eine Nadel gefädelt ist.
Legende: Durch ein Nadelöhr zum Glück: Mit der richtigen Haltung sei das möglich, sagt Philosoph Martin Ebeling. SRF / Camille Scherrer / Getty Images / subjug

Mit welcher Methode bringen Sie das Ihren Kundinnen und Kunden an der «School of Life» bei?

Die «School of Life» hat keine Methode erfunden. Wir bedienen uns bei den zentralen Einsichten aus dem Weltkulturerbe und kristallisieren die Reflexionsmethoden heraus. Wir sprechen mit den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern über die Ängste, die sie plagen, und über den Ansporn, an ein erfüllteres Leben zu glauben.

Die «School of Life»

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Die «School of Life» wurde 2008 vom Schweizer Philosophen und Bestsellerautor Alain de Botton in London gegründet. Sie umfasst mittlerweile acht Niederlassungen, darunter Amsterdam, Sao Paulo, Taipei, Istanbul und Berlin. www.theschooloflife.com

Klingt eher verkopft. Ist Zufriedenheit nicht eine Frage des Gefühls?

Denken und Fühlen sind kein Gegensatz. Es würde niemand sagen: Wenn du neidisch bist, hast du wohl einen Grund dazu – kultiviere deinen Neid weiter! Die richtige Einstellung ist die Distanzierung und die Frage: Woher rührt mein Neid? Kann ich die Umwelt so ändern, dass er verschwindet? Oder kann ich meine Einstellung zur Umwelt ändern? Gleichzeitig können wir viel lernen, wenn wir unsere Gefühle auf die richtige Weise betrachten.

Das lernt man auch in einer Psychotherapie. Ob auch die Philosophie zum Therapeutikum taugt, ist strittig.

Man sollte die Philosophie nicht mit Erwartungen überfrachten. Aber es lohnt sich, daran zu erinnern, dass der Philosoph in der Antike oft mit einem Arzt verglichen wurde: Während der Arzt die Gebrechen des Körpers heilt, heilt der Philosoph die Krankheiten der Seele. Philosophie ist so verstanden vielleicht nicht Lebenshilfe, aber Lebenskunst.

Illustration einer Figur, die an einem Abgrund balanciert.
Legende: Der Abgrund gehört für den Stoiker zum Leben dazu. Aus dieser Haltung können wir auch heute viel lernen. SRF / Camille Scherrer

Wenn von der Philosophie als Lebenskunst die Rede ist, wird gern auf die Philosophie der Stoa verwiesen. Die antike Weisheitslehre, die etwa um 300 v. Chr. entstand und bis 250 n. Chr. dauerte, erlebt gerade einen Boom: Die Schriften von Seneca, Marc Aurel oder Epiktet verkaufen sich wie warme Semmeln und es gibt Dutzende von Twitter-, Facebook- und Instagram-Profilen zu stoischer Philosophie. Was macht die stoische Philosophie so attraktiv?

Sie ist auf jeden Fall sehr alltagsnah. In ihrem Kern steht die Frage, wie wir ein zufriedenes, erfüllendes Leben führen können.

Der Abgrund gehört für den Stoiker zum Leben dazu.

Die Stoa entstand in einer Krisenzeit, als die griechischen Kleinstaaten im hellenistischen Grossreich und später im römischen Imperium aufgingen. Die damalige Gesellschaft wurde von einem rasanten Wandel erfasst.

Das macht die Stoa während der Corona-Zeit zusätzlich attraktiv: Sie setzt bei Erfahrungen an, mit denen wir in Krisenzeiten fertig werden müssen. Wir scheitern, wir stehen vor dem Konkurs, sind mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Der Abgrund gehört für den Stoiker zum Leben dazu.

Der Schriftsteller Rolf Dobelli, der sich als moderner Stoiker bezeichnet, hat auf seinem Schreibtisch eine digitale Uhr stehen, die die Tage runterzählt, die ihm bleiben bis zu seinem statistisch errechneten Tod. Ist das ein kluger Umgang mit dem Abgrund?

(lacht) Auf jeden Fall ein charmanter Umgang! Bei den Stoikern kann man auch lernen, dass wir den Abgrund nicht zu ernst nehmen sollen. Der spielerische Umgang mit dem sicheren Ende ist also durchaus stoisch. Zugleich würden die Stoiker weitergehen und die Uhr auf 1 vor 0 stellen: Wir wissen nie, ob es morgen zu Ende ist.

Illustration eines tanzenden Klaviers.
Legende: Ein spielerischer Umgang mit Krisensituationen sei hilfreich, sagt der Philosoph Martin Ebeling. SRF / Camille Scherrer / Getty Images / Stockbyte

Nicht besonders tröstlich.

Naja, vielleicht eben doch ein Moment der Freiheit. Die Stoa vermittelt, dass wir unser Leben an nichts ketten sollen. Der römische Philosoph Seneca, der 65 n. Chr. starb, plädiert in seinen «Trostbriefen» dafür, alles, was uns im Leben widerfährt, aber auch das Leben selbst, nur als Leihgabe zu sehen. Fordert das Schicksal etwas zurück, sollten wir es ohne Gram herausrücken. Das Tröstliche daran ist, dass die tiefe Quelle des Glücks nicht in den Dingen liegt, sondern in uns selbst.

Und was, wenn die Quelle des Glücks in mir nicht sprudeln will?

Ohne Arbeit geht das auch bei den Stoikern nicht: Wir müssen lernen, aus uns selber zu schöpfen. Dazu gehört Selbstakzeptanz und die Fähigkeit, die eigenen Gefühle kritisch zu reflektieren.

Wir sollten uns auch anfreunden mit der Idee, dass alles noch viel schlimmer kommen könnte. Das verlangt die stoische Übung der «praemeditatio malorum»: Sich das denkbar Schlimmste vorstellen, um sich gewappnet zu fühlen für alles, was kommt.

Wir sollten uns auch anfreunden mit der Idee, dass alles noch viel schlimmer kommen könnte.

Das Rezept hat auch seinen Niederschlag gefunden in der Expositionstherapie: Wer etwa Angst vor Spinnen hat, lernt damit, eine echte Spinne anzufassen. Wir lernen dabei, dass Emotionen flexible Gebilde sind, denen wir nicht ausgeliefert sind, sondern die wir gestalten können.

Illustration eines Salz- und eines Pfefferstreuers.
Legende: Gestaltungsspielräume erkennen und dem Leben eine eigene Würze geben: eine gute, stoische Übung. SRF / Camille Scherrer / Getty Images / Grove Pashley

Wenn wir erst mal erkennen, wie viel Freiheit darin liegt, eigene Einstellungen und Erwartungen zu ändern, ist schon viel gewonnen. Dann braucht es noch den Mut, daraus Konsequenzen zu ziehen.

Das Ziel der Stoikerinnen ist die Seelenruhe, die «ataraxia»: innerlich ruhig und nicht stets auf 180 durch die Welt zu gehen.

Das stimmt nicht ganz: Die Ataraxie ist nicht das Ziel des stoischen Lebens, sondern ein Nebeneffekt. Das Ziel des Stoikers ist ein Leben in Übereinstimmung mit seiner Natur, denn darin besteht das Glück: Dass wir unser Wesen entfalten.

Zum Wesen des Menschen gehört unbedingt auch seine Vernunft, glaubt die Stoikerin. Wer seine Vernunft nutzt, wird auch Weisheit, Mut, Besonnenheit und Gerechtigkeit an den Tag legen.

Das klingt etwas verstaubt.

Das liegt nur an den Begriffen. Interessanterweise hat auch die «positive Psychologie», die Forschungsrichtung, die nach dem menschlichen Glück und der Zufriedenheit fragt, festgestellt, dass ein tugendhaftes Leben glücklich macht.

Man könnte auch sagen: ein Leben, das die eigenen Stärken zur Entfaltung bringt. Die positive Psychologie zählt dazu auch Liebe und Mitmenschlichkeit.

Das Ziel des Stoikers ist ein Leben in Übereinstimmung mit seiner Natur.

Es ist ein Missverständnis, dass Menschen, die sich vor allem um sich selber kümmern, glücklicher sind. Auch die Stoa war keine Rückzugsphilosophie – im Gegenteil. Es geht wesentlich darum, dass wir uns bemühen, für andere und mit anderen gut zu sein.

Illustration eines Plattenspielers, neben dem eine Platte liegt.
Legende: In der Seelenruhe liegt die Kraft der Stoiker. Und wir können sie selbst herbeiführen. SRF / Camille Scherrer / Getty Images / Sean Gladwell

Seelenruhe ist also nicht gleich Askese?

Auf jeden Fall nicht zwingend. Die Seelenruhe stellt sich ein, wenn wir uns selbstwirksam fühlen und ein Leben leben, in dem wir aufblühen. Dafür brauchen wir natürlich eine fruchtbare Umgebung. Aber anders als eine Pflanze können wir auch mit unserer Vernunft viel dazu beitragen, unsere Einstellungen zu den Dingen zu ändern und der Umgebung nicht einfach ausgeliefert zu sein.

Sie sind ein erfolgreicher Unternehmer, halten Vorträge, geben Kurse, haben ein kleines Kind ... Haben Sie Seelenruhe?

(lacht) Manchmal ist Seelenruhe auch Hektik, aber wenn ich merke, dass ich gebraucht werde und etwas Sinnvolles tun kann, dann ist selbst die Hektik befriedigend. Ich glaube, ich habe das Glück, etwas tun zu können, das mir entspricht. Das ist schon die halbe Miete. Manchmal muss ich dennoch nachhelfen. Das tue ich durch Meditation, Sport und gute Freundinnen und Freunde.

Gibt es andere Quellen des Trostes in der Philosophie?

In der «School of Life» setzen wir uns kritisch mit dem Glücksimperativ unserer Zeit auseinander. Abgesehen davon, dass uns allen auch Enttäuschungen widerfahren, besteht für viele ein zusätzlicher Stress darin, dass wir denken, es stimme etwas nicht mit uns, wenn wir nicht immer glücklich sind.

Melancholie gehört aber zum menschlichen Leben. Das kann man beim dänischen Philosophen Sören Kierkegaard lernen: Jede existenzielle Entscheidung geht mit dem Bedauern einher, dass man nicht beides haben kann. Anerkennen, dass dieses Bedauern die Kehrseite der Freiheit ist, erfahren viele Menschen als tröstlich.

Illustration zweier Katzenkinder.
Legende: Sich mit dem grossen Ganzen zu verbinden – mit Natur, Mitmensch und Tier –, spende Trost, so Martin Ebeling. SRF / Camille Scherrer / Getty Images / spxChrome

Andere Philosophen haben Trost in der Natur gesucht und gefunden – etwa Rousseau oder Thoreau.

Ja, dem kann ich auch viel abgewinnen. Ich arbeite momentan in einer Hütte ausserhalb Berlins, umgeben von Wäldern. Das Rauschen der Blätter, das Spiel des Lichts in den Wipfeln – das alles gibt uns das Gefühl, Teil eines grösseren Ganzen zu sein und unseren Platz darin zu haben. Das ist übrigens wiederum ein stoischer Gedanke: Dass wir eingebettet sind in einen Kosmos, der sinnhaft und wohlgeordnet ist, und in dem auch der Tod seinen Sinn hat.

Das Gespräch führte Barbara Bleisch.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 20.12.2020, 11:00 Uhr ; 

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