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Illustration: Zwei Personen mit kürzeren Haaren und blauem Veston stehen vor einem Café. Die eine Person weist der anderen den Weg zur Türe.
Legende: SRF / Yvonne Rogenmoser

Philosophische Antworten Was wäre, wenn es nur ein Geschlecht gäbe?

Die Trennung zwischen zwei Geschlechtern zieht sich durch unser ganzes gesellschaftliche Leben. Sie bestimmt mit, wie wir reden, gehen, sitzen oder uns anziehen.

Auch spielt Geschlecht bei der Wahl unserer Berufe, Beziehungen, Hobbys und Spielsachen eine Rolle, ebenso dabei, welche Produkte wir für Ernährung und Körperpflege benutzen oder in welchen Räumen wir uns aufhalten.

Deborah Mühlebach

Philosophin

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Deborah Mühlebach ist Philosophin und Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie der Universität Basel.

Sie arbeitet zu Sprache, Macht und Gesellschaftskritik und setzt sich für feministische Anliegen ein.

Obwohl es viele Menschen gibt, die weder Frau noch Mann sind, ist unsere Gesellschaft zweigeschlechtlich organisiert. Sie lässt kaum mehr als zwei Geschlechter zu. Für unsere Gesellschaft ist es schon schwierig, die bestehende Realität von mehr als zwei Geschlechtern anzuerkennen. Da ist die Fiktion, dass es nur ein Geschlecht geben könnte, in ihrem Ausmass kaum vorstellbar.

Keine neue Idee

Es mag heute erstaunen: Die Vorstellung, dass es zwei grundsätzlich unterschiedliche biologische Geschlechter gebe, die einem aufgrund bestimmter biologischer Merkmale bei der Geburt zugewiesen werden, ist historisch gesehen eher jung. Die Idee eines einzigen biologischen Geschlechts ist also nicht so neu.

Laut dem Historiker Thomas Laqueur dominierte bis ins 18. Jahrhundert das Ein-Geschlecht-Modell. Demzufolge gibt es ein Geschlechtsorgan, das bei verschiedenen Personen unterschiedlich ausgeprägt vorliegt: nach aussen oder nach innen gestülpt.

Die Rezeptur des biologischen Geschlechts

Inzwischen wissen wir, dass Faktoren wie Hormone, Chromosomen und Geschlechtsorgane zusammenkommen müssen, um ein biologisches Geschlecht als männlich oder weiblich zu bestimmen. Diese Faktoren können je nach Individuum unterschiedlich zusammengesetzt auftreten.

Allerdings begegnen wir nicht weiblichen oder männlichen Geschlechtsmerkmalen, sondern wir interagieren mit ganzen Menschen als soziale Wesen. Was wäre also, wenn es statt Männern, Frauen und anderen Geschlechtern nur ein soziales Geschlecht gäbe, mit dem sich Menschen identifizieren?

Keine Geschlechter, keine Unterdrückung

Gäbe es nur ein soziales Geschlecht, gäbe es keine Frauen und Männer mehr. Wie könnte es dazu kommen? Die Philosophin Catharine MacKinnon geht davon aus, dass die männliche Unterdrückung von Frauen kein Nebenprodukt unserer Unterscheidung zwischen Mann und Frau ist.

Sondern sie glaubt, diese Unterdrückung sei notwendig, damit es die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern überhaupt gibt. Wenn die Unterdrückung von Frauen durch Männer endet, existieren also auch keine Frauen und Männer mehr.

Man muss dieser These nicht zustimmen, um dennoch ihre Umkehrung gelten zu lassen: Ohne die Kategorien Mann und Frau fiele Geschlechterunterdrückung weg.

Das Ende der sexualisierten Gewalt

Auch sexualisierte Gewalt wäre dann passé. Es gäbe keine erschreckenden Studien mehr, die zeigen, dass in der Schweiz mehr als die Hälfte aller Frauen durch unerwünschte Berührungen sexuell belästigt werden.

Jede fünfte Frau erlebt ungewollte sexuelle Handlungen, jede zehnte Frau wird vergewaltigt und über die meisten dieser Gewalterfahrungen wird geschwiegen.

Von Sexismus, der Frauen und genderqueere Personen zum Schweigen bringt, hätten wir uns insgesamt verabschiedet. Feminist*innen bräuchte es nicht mehr. Oder wir hätten alle mehr Zeit für anderes. Zum Beispiel für die Beendigung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

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