Mittwochnachmittag, es herrscht kaltes, nassgraues Winterwetter. Doch als der 13-jährige Eric am Bahnhof Winterthur in die Tasten greift, ist es, als ob die Sonne aufgehen würde. Das sprachliche Bild mag kitschig und abgedroschen klingen, und doch bringt es auf den Punkt, was da gerade passiert.
Eric trägt Turnschuhe, Jeans und schwarze Winterjacke und spielt wie ein Starpianist mit viel Verve und Leidenschaft Werke von Debussy und Chopin. Immer mehr Passantinnen und Passanten bleiben stehen, hören ihm gebannt zu und lächeln. Als Zuhörerin fühle ich mich in dem Moment als Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft, die gerade Zeuge eines ergreifenden Momentes wird.
Eine Frau neben mir erzählt, dass sie gleich neben dem Bahnhof wohne, darum oft durch diese Unterführung gehe und das aktuell sehr gerne tue. «Es freut mich jedes Mal, wenn ich jemanden spielen höre und mir gefällt die Vielfalt: Jung und Alt, von ‹Aui mini Änteli› bis zu komplexen Werken.»
Wer hats erfunden? Ein Engländer!
Seit 2018 stellt die SBB in den Herbst- und Wintermonaten jeweils drei Klaviere an unterschiedlichen Bahnhöfen in der Schweiz auf, mit dem Ziel, Passanten Freude zu bereiten. «Bahnhöfe sind nicht einfach nur Verkehrsknotenpunkte, sondern auch Orte der Begegnung und das möchten wir fördern», sagt Fabienne Thommen von der SBB. Sie bekämen viele positive Rückmeldungen zu den Pianos. Nur höchst selten fühle sich jemand von der Musik gestört.
Das Konzept der öffentlichen Klaviere stammt aus England und ist Teil der sozialen Kunstaktion «Play Me, I'm Yours». Der britische Installations-Künstler Luke Jerram stellte 2008 in Birmingham 15 Klaviere auf, die von Passanten gespielt werden konnten. Viele der Instrumente wurden von lokalen Künstlern, Schulklassen oder Gemeinschaftsgruppen gestaltet. Seitdem haben über 50 andere Städte Jerrams Idee aufgegriffen. Mit dabei sind Orte in Deutschland, Österreich, Italien, USA, Japan und Australien.
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Bild 1 von 3. «Play Me, I'm Yours» begeistert klein … . Bildquelle: Getty Images/Matt Cardy.
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Bild 2 von 3. … ebenso wie gross … . Bildquelle: IMAGO / Depositphotos.
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Bild 3 von 3. … und sorgt selbst am hektischen Times Square in New York für Wohlklang. (2010). Bildquelle: Getty Images/Mario Tama.
Zurück nach Winterthur, wo der junge Mann am Piano zum Abschluss «Oh Tannenbaum» anstimmt. Seine Spielkunst wird mit lautem Applaus quittiert. Er spiele seit fünf Jahren Klavier, habe auch schon Preise gewonnen und komponiere selbst Musik, erzählt Eric beim anschliessenden Gespräch.
«Schön, dass jemand zuhört»
In der Schule sei der Musikunterricht ausgefallen, darum sei er jetzt hier. «Hier kann ich trainieren, vor Publikum zu spielen. Und ich finde es schön, dass mir jemand zuhört, anstatt dass ich alleine Zuhause übe.»
Dieser Mittwochnachmittag am Bahnhof Winterthur macht deutlich: Auch im sechsten Jahr ist «Pianos on Tour» immer noch ein bestechendes Projekt, weil es etwas sehr Menschliches berührt und auslöst. Die Klaviere sind nicht einfach nur ein Instrument, sondern eine Einladung zu einer Zusammenkunft. Hier können sich Menschen gemeinsam erfreuen oder anderen Freude bereiten. Niemand muss so perfekt spielen wie Eric, niemand muss sich erklären – der Klang genügt, um Menschen für eine kurze Zeitspanne zu verbinden, die sich im Alltag vielleicht nie begegnet wären.