SRF: Unsere Medien berichten im Zusammenhang mit dem Islam fast ausschliesslich über Gewalt und Terrorismus. Wieso?
Peter Heine: Weil die Medien nach dem Schema funktionieren: Good news are no news. Vielmehr sind problematische, sensationelle Dinge gefragt. Diese sind zwar weltweit anzutreffen, aber in der islamischen Welt im Besonderen.
Warum?
Weil die islamische Welt eine grosse und heterogene Gesellschaft umfasst. Es wird oft vom Islam geschrieben. Aber «den Islam» gibt es nicht.
Betrachten wir die beiden Länder Indonesien und Saudi-Arabien: In Indonesien sind Islam und Demokratie vereinbar. In Saudi-Arabien nicht. Trotzdem sind beide islamische Länder.
Apropos Saudi-Arabien: Würde dieses Land über weniger Ölvorkommen verfügen, wäre das mediale Interesse des Westens bedeutend geringer – davon bin ich überzeugt.
Ist die Religion Grund für die Konflikte in der Region?
Oft vergessen wir: Probleme sind meist struktureller und ökonomischer Natur. Religion oder auch eine Ideologie wird aber politisch instrumentalisiert.
Nehmen wir Afghanistan als Beispiel: Die Amerikaner bewaffneten in den 1990er-Jahren die Taliban – unter dem Vorwand, den Kommunismus zu bekämpfen. Doch der Ursprung dieses Konfliktes geht auf das «Great Game» zurück, als England und Russland sich ab 1813 um die Vorherrschaft in Zentralasien bekämpften.
Sie sprechen den Kommunismus an, der als grosse Bedrohung des Westens wahrgenommen wurde. Ist der Islam nun an diese Stelle getreten?
Als ich diese These wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges das erste Mal hörte, glaubte ich nicht an sie. Heute aber muss ich sagen, an der Sache ist was dran.
Viele Menschen sehen im Islam den grossen Feind. Das merke ich auch immer wieder an meinen Veranstaltungen. Da referiere ich über die Kulinarik des Nahen Ostens, und das Publikum stellt Fragen zum Dschihad, dem Heiligen Krieg.
Würde sich dieses Bild verändern, wenn sich hier lebende Muslime öffentlich vom Terrorismus distanzierten?
Ich glaube ja. Aber muslimische Organisationen müssten sich öfters und schneller von Anschlägen distanzieren, die im Namen des Islams verübt worden sind. In Deutschland geschieht dies übrigens erst seit den Anschlägen auf den Berliner Weihnachtsmarkt.
Müssten sich Muslime also besser organisieren?
Das ist nicht so einfach, weil im Islam hierarchische Strukturen fehlen. In Deutschland beispielsweise dreht sich die Debatte derzeit darum, wer für den Islam spricht:
Wenn die Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion eine Stellungnahme abgibt, dann sagt der Verband der Islamischen Kulturzentren, dass sie sich mit dieser Aussage nicht identifizieren können.
Braucht der Islam eine Reformation?
Im Islam von einer Reformation zu sprechen, finde ich problematisch. Denn im islamischen Verständnis versteht man unter Reformation die Rückführung auf alte Systeme.
Das geschah mit der Bewegung der frommen Altvorderen, as-salaf as-salih, die heute als Salafisten bekannt sind. Sie wollen ein Leben wie zu Zeiten des Propheten Mohammad führen und die Einheit der islamischen Welt wiederherstellen.
Was ist in Ihren Augen dann die Lösung, damit sich der Islam vom Imageproblem von Gewalt und Terrorismus befreien kann?
Der Islam ist in meinen Augen durchaus eine moderne Religion, weil sie flache Hierarchien kennt: Nicht ein Vorsitzender gibt den Glauben vor, sondern jeder Muslim selbst.
Und genau hier liegt das Problem: Viele Muslime im Westen kennen ihre Religion zu wenig. Sie geben nur wieder, was ihnen über den Islam erzählt worden ist.
Deshalb teile ich die Meinung von Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster. Er fordert Muslime auf, den Koran und andere religiöse Quellen kritisch zu lesen und zu hinterfragen.
Seit Juni gibt es in Berlin eine liberale Moschee. In der Ibn-Rusch-Goethe-Moschee sind Homosexuelle wie auch verschiedene islamische Konfessionen willkommen. Frauen und Männer beten gemeinsam, Frauen leiten das Gebet. Braucht es einen europäischen Islam?
Wahrscheinlich ja. Denn es gibt ja auch einen türkischen, einen iranischen, einen westafrikanischen Islam. In jedem Land musste sich der Islam an andere gesellschaftliche Begebenheiten anpassen.
Ein Beispiel ist die Volksgruppe der Hausa in Westafrika, die in einem Matriarchat leben; die Frauen betreiben die Geschäfte und verwalten die Finanzen. Da passt das islamische Erbrecht, bei dem Frauen weniger als Männer erben, nicht ins System. Deshalb kommt es nicht zur Anwendung.
Auch in Europa wird sich der Islam der hiesigen Gesellschaft anpassen. Nur geschieht dies nicht von heute auf morgen.
Das Gespräch führte Nicola Mohler
Nachgefragt bei Muslimen
Wie halten Sie's mit Ihrem Glauben? Auf einem Rundgang im Kleinbasel fragten wir Muslime und Musliminnen, die wir zufällig antrafen, nach ihrem Umgang mit der Religion.