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Renommierter Soziologe 100 Jahre Zygmunt Bauman: Denken gegen die Angst vor den Anderen

Flüchtige Moderne, feste Werte: Zygmunt Bauman wäre am 19. November 100 Jahre alt geworden. Was bleibt von seinen Ideen?

Zygmunt Bauman wollte nicht die Menschheit erlösen, sondern, dass Menschen lernen, sich selbst zu verändern. Mit scharfem Witz, leiser Melancholie und unerschütterlichem Humanismus legte er den Finger auf die Wunden einer fragmentierten Welt.

Unsere Gesellschaft ist immer im Fluss, wird flüchtig und unberechenbar, weil sie ihre Form nur für einen Augenblick behält.
Autor: Zygmunt Bauman Soziologe

Über sich selbst sagte er einmal, er sei «mehr Vogel als Ornithologe»: kein abgehobener Theoretiker, sondern ein wacher Intellektueller, der die Bruchstellen von Gesellschaft und Politik als Zeitgenosse betrachtete.

Flucht und flüchtige Moderne

Bauman überlebte den Nationalsozialismus, erlebte antisemitische Hetze im Polen der 1960er-Jahre, ging ins Exil nach Israel und landete schliesslich als Professor für Soziologie in Leeds. Die Erfahrung ständiger Entwurzelung prägte sein Denken. Migration, Zugehörigkeit, Solidarität waren für ihn persönliche Erfahrung, biografisch gelebte Wirklichkeit.

Älterer Mann in Anzug sitzt in elegantem Raum.
Legende: Zygmunt Bauman warnte stets vor der Zersplitterung und Privatisierung der Gesellschaft. Besonders viel Aufmerksamkeit fand seine Analyse der modernen Konsumgesellschaft. Imago/opale.photo

Der polnisch-britische Soziologe blieb ein kosmopolitischer Aussenseiter ohne feste Schule. Im englischen Leeds gründete er keine eigene «Richtung», sondern praktizierte Soziologie als Lebensform – durchsetzt mit literarischen und filmischen Bezügen, scharfzüngig und essayistisch.

Bauman war ein Solitär; er hinterliess keine geistigen Schüler, sondern ein Werk, das für sich steht. Seine Bücher, darunter «Dialektik der Ordnung», «Flüchtige Moderne» oder «Die Angst vor den Anderen», prägten unser Verständnis von Ordnung, Kontrolle, Konsum und Freiheit.

Vom Totalitarismus zur Konsumgesellschaft

In «Dialektik der Ordnung» formulierte Bauman die These: Der Holocaust war kein «zivilisatorischer Ausrutscher», sondern entsprang der inneren Logik der Moderne – dem Drang, Gesellschaft zu vermessen, zu klassifizieren und «Unordnung» zu beseitigen. Später fragte er: Was geschieht, wenn diese Ordnung zerfällt? Wenn das Individuum zum Kontrollzentrum wird?

Mit «Flüchtige Moderne» entwarf Bauman das Bild einer Welt im ständigen Fluss. Institutionen verlieren Bindekraft, soziale Beziehungen werden episodisch, Identitäten zur Ware. «Unsere Gesellschaft ist immer im Fluss, wird flüchtig und unberechenbar, weil sie ihre Form nur für einen Augenblick behält.»

Kritisch, aber kein Kulturpessimist

Bauman sieht den Zerfall der Öffentlichkeit als Folge radikalisierter Individualisierung. Die einstige Agora der Verständigung, das Forum, verschwindet in sozialen Medien. Debatten simulieren Streit, und die Demokratie verliert ihren lebendigen Raum.

Menschlichkeit beginnt dort, wo wir den Fremden nicht als Bedrohung, sondern als Spiegel unserer Verantwortung erkennen.
Autor: Zygmunt Bauman Soziologe

Trotz oft düsterer Diagnosen war Bauman kein Kulturpessimist. Er blieb überzeugter Sozialist, suchte nach realisierbaren Utopien – etwa einem garantierten Grundeinkommen – und vertraute auf die Fähigkeit des Menschen, Gemeinsinn zu stiften. Als intellektueller Flaneur spürte er Brüche auf und brachte sie in Beziehung zu globalen Entwicklungen.

Angst vor den «Anderen»

In «Die Angst vor den Anderen» ruft Bauman zur Besinnung auf moralische Werte der westlichen Gesellschaften auf. Migration sei keine Krise, sondern Ausdruck globaler Ungleichheit und politischer Verantwortung. Flüchtlinge würden zu Sündenböcken gemacht, obwohl sie nur ein besseres Leben suchten.

Älterer Mann gestikuliert mit dem Finger erhoben.
Legende: Ein Mahner ja, aber ein den Menschen zugewandter: Zygmunt Bauman 2013 in Barcelona. Keystone/EPA/Toni Albir

Populisten setzten auf Angst statt Ursachenanalyse. Die Lösung liege nicht in Abschottung, sondern in Solidarität. Baumans Vermächtnis erinnert daran, dass Menschlichkeit dort beginnt, wo wir den Fremden nicht als Bedrohung, sondern als Spiegel unserer Verantwortung erkennen.

Buchhinweise

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Zygmunt Bauman:

  • «Die Angst vor den Anderen», Edition Suhrkamp.
  • «Flüchtige Moderne», Edition Suhrkamp.
  • «Dialektik der Ordnung», Europäische Verlagsanstalt.

Radio SRF2 Kultur, Kultur-Aktualität, 19.11.2025, 7:06 Uhr.

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