Wüsste man nicht, wo man sich befindet, das Urteil wäre eindeutig: Das ist eine Kirche. Auf einem Hügel, leicht von seiner Umgebung abgehoben und in eine Kolonie ähnlich aussehender Häuser eingebettet, steht das Goetheanum in Dornach bei Basel.
Es ist ein monumentaler Bau, der auf noch monumentalerem Grund ruht, dem sogenannten «Bluthügel». Dort schlugen 1499 die Eidgenossen die Habsburger in den Wind.
Das Goetheanum in Dornach (SO)
Bei Wind und Wetter, gar in blitzendem Gewitter, legte Rudolf Steiner 1913 auch den Grundstein für dieses Gebäude. Es sollte das Anheben einer neuen Zeit signalisieren, wie Helmut Zander erklärt. Er gilt als einer der besten unabhängigen Kenner der Anthroposophie.
Vielseitiger «Geheimwissenschaftler»
Trotz der dramatischen Geste brannte das erste Goetheanum Ende 1922 nieder, ehe es eingeweiht werden konnte. War es Brandstiftung, ausgeübt von einem über die Vereinnahmung des Hügels verärgerten Basler? Bis heute ist die Ursache ungeklärt.
Der Vorfall scheint sich dramatisch auf Steiners Befinden auszuwirken. Er wird krank und gebrechlich. Dennoch zwingt er sich bis zu seinem Tod 1925 eine enorme Arbeitsleistung ab. Er feilt an Entwürfen für das zweite, heute erhaltene Goetheanum, führt Korrespondenzen und schreibt an seiner «Geheimwissenschaft».
Steiner betätigte sich nicht nur innerhalb der Architektur, sondern äusserte sich auch zur Pädagogik, was in den Steiner-Schulen resultierte. Er schrieb zur Landwirtschaft, was heute Demeter prägt, zur Medizin, die uns in anthroposophischen Kliniken begegnet, und zur Kosmetik, wodurch Weleda entstand.
Zudem begründete er eine eigene Bewegungskunst, die Eurythmie, und stiftete eine religiöse Gemeinschaft innerhalb des Christentums, die «Christengemeinschaft», sowie die «Freie Gemeinschaftsbank Basel». Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Man kann ein ganzes Menschenleben im Kosmos von Rudolf Steiner verbringen.
Ein «sackstarkes» Vorbild
Jemand, der Steiners Erbe «sackstark» findet, ist Andreas Würsch, Demeterbauer in Nidwalden. Sein 13 Hektaren kleiner Hof ist inzwischen an die beiden Söhne übergegangen. Aber die Faszination für diese Form der Landwirtschaft steht dem bald 70-Jährigen ins Gesicht geschrieben.
Eine Sinnkrise liessen ihn und seine Frau Käthi vor 28 Jahren umdenken: Aus dem Schweinezüchter wurde ein biologisch-dynamischer Gemüsebauer. Als er den Futterlieferanten über die Umstellung informierte, verging keine halbe Stunde, und der Chef und Vizechef fuhren auf dem Hof vor: «Um zu schauen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe», erzählt der Landwirt amüsiert.
Der Hof als Organismus
Die Schweine verschwanden. Dafür kamen sieben Milchkühe, «die schönsten auf der Alpennordseite», 50 Ziegen, 2.5 Hektaren Gemüsebeete für Sommer- und Wintergemüse und 100 Hochstamm-Obstbäume. «Für mehr ist der Hof zu klein», so der Nidwaldner.
Dies entspricht dem Prinzip des Öko-Pioniers Steiner: Es sollen nur so viele Tiere gehalten werden, wie sich mit dort angebautem Futter ernähren lassen. Deren Dung wiederum ernährt die Pflanzen.
Kosmisches Kuhhorn
Berühmt-berüchtigt ist Demeter vor allem für das mit Kuhmist gefüllte Horn, das über den Winter vergraben, anschliessend mit Wasser verrührt und im Frühling übers Feld gespritzt wird. Die Kuhhörner, so die Idee, sammelten «kosmische und irdische Kräfte» und gäben diese weiter.
«Dieses Häuschen ist das Präparaten-Häuschen», sagt Andreas Würsch gleich nach der Begrüssung, auf das Herzstück eines Demeter-Betriebs verweisend. Das ist auch der Ort, wo sich Steiners esoterischer Einfluss am deutlichsten zeigt.
Quarz für den Zucker
Im selbstgebauten, königsblauen Holzschuppen werden Töpfe mit Pflanzen-Präparaten gelagert, die man zur ‹Dynamisierung› als Dünger in den Kompost aus Mist und Gülle gibt. In einem Kupferbottich wird überdies meditativ in vorgegebener Dynamik Wasser gerührt, das in homöopathischer Dosis mit gemahlenem Quarzstein versetzt wurde.
«Das verneble ich über die Pflanzen. Es bewirkt, dass sie mehr Licht erhalten. So wird die Aroma- und Zuckerbildung angeregt.» Auf Kunstdünger oder chemische Spritzmittel verzichtet der Bauer komplett, auf Antibiotika sowieso. Die Kühe bleiben behornt.
Die Macht der Mondphasen
Die hohen Standards machen diese Landwirtschaftsform sehr aufwändig. Das zeigt sich auch an den Produktpreisen. Was man beim Griff zum Demeter-Apfel im Coop allerdings nicht ahnt: Bei Demeter geht es um mehr als bloss nachhaltige Landwirtschaft und Biodiversität.
Kosmische Konstellationen spielen hier genauso eine Rolle wie die Mondphasen. Durch einen geistigen Gesamtzusammenhang soll ein Gleichgewicht geschaffen werden.
Tummelplatz der Tiere
Dafür werden zum Beispiel die vier klassischen Elemente berücksichtigt, etwa Bach und Teich für das Wasserelement und Steinhaufen, die Schlangen und Echsen anziehen, als Feuerelement. Im Heckengehölz, dem Luftelement, nisten sich Singvögel ein.
Die geistige Welt hat für mich eine Realität erhalten.
Diese Diversität an Tieren und Insekten hätten sie zuvor nicht gehabt. Dennoch sage er sich immer wieder «chum, mach der nüd vor». Denn dass das alles äusserst esoterisch anmutet und für Stirnrunzeln sorgt, weiss der Landwirt auch von seinen Kindern, die ihn mit seinem «Weihwasser» necken.
Inzwischen sei es für ihn aber nicht mehr eine Frage des Glaubens: «Die geistige Welt hat für mich eine Realität erhalten. Die Veränderung auf dem Hof hat auch Dinge in mir verändert.»
Saftig, frisch und fruchtbar
Zumindest der Erfolg gibt ihm Recht: Sowohl die Qualität des Bodens als auch die Ernte bestätigen sein Tun. Und dies, obschon es in den Böden des Demeterbauern nach eigener Aussage vierzig Prozent weniger Stickstoff habe als regulär empfohlen wird.
Dass die biodynamische Landwirtschaft die Bodenfruchtbarkeit und das Leben darin optimal fördert, hat eine Studie des Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) nachgewiesen . Und tatsächlich: Die Erde ist saftig-krümelig, tief dunkelbraun und riecht wunderbar frisch.
Ob man dabei an Elementarwesen, kosmische Befruchtung oder homöopathische Verdünnung glaubt, ist zweitrangig. Andreas Würsch betont, wie unterschiedlich die Demeterbauern seien. Einige könnten mit dem geistigen Überbau nicht viel anfangen.
Charismatischer Übervater
Wer aber war dieser charismatische Übervater der Anthroposophie, der ein so potentes Erbe hinterliess?
Steiner erblickt Ende Februar 1861 im heutigen Kroatien in einer deutschsprachigen Enklave das Licht der Welt. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf. Religion oder Spiritualität spielen im Hause Steiner bis auf die katholische Taufe keine Rolle, die Ausbildung dafür eine umso grössere, weiss Experte Helmut Zander.
Durch seinen Vater kommt Steiner mit deutschnationalistischem Gedankengut in Kontakt. Dieses findet sich später nebst rassistischen und antisemitischen Aussagen auch in Steiners Schriften wieder und wird bis heute intensiv diskutiert.
Erkenntnis der höheren Welten
In Wien studiert Steiner 1879 Naturwissenschaften. Anschliessend auch Literatur und Philosophie. Auf seinem geistigen Weg begleiten ihn viele Denker. Prägend ist zunächst Nietzsche, dann zunehmend Goethe.
Für seine Promotion nimmt sich Steiner einen Philosophen des deutschen Idealismus vor: Johann Gottlieb Fichte. Die Beschäftigung mit dem erkennenden Subjekt wird ihn ein Leben lang begleiten. Sie mündet in einer ganz eigenen Erkenntnistheorie, die sich um die Frage dreht, wie der Mensch Erkenntnis höherer Welten erlangen kann.
1902 tritt Steiner in die «Theosophische Gesellschaft» ein. Deren Credo: Es gibt eine geistige Welt und der Mensch kann sich diese nutzbar machen.
Selbsternannter Hellseher
Steiner glaubt, hellsichtige Fähigkeiten zu haben. Diese befähigen ihn, so die Überzeugung, in jeglichen Bereichen tätig zu sein. Auf der Basis eines eklektisch zusammengefügten Weltbildes gründet er 1912 seine eigene, anthroposophische Gesellschaft, mit Zentrum im Goetheanum in Dornach.
Ihm war wichtig aufzuzeigen, dass der Mensch auch ein geistiges Wesen ist.
Die Anthroposophie – zu Deutsch: «Die Weisheit vom Menschen» – ist ein von Spiritualität geprägter Erkenntnisweg und esoterisches Weltbild zugleich, in deren Zentrum das Individuum und dessen Entwicklung grösste Bedeutung hat.
«Steiner war es wichtig aufzuzeigen, dass der Mensch nicht nur ein materielles, sondern auch ein geistiges und seelisches Wesen ist», erklärt die Steiner-Biografin und Anthroposophin Martina Maria Sam.
Der beseelte Mensch
Das ist auch Grundlage für die weltweit 1200 Steiner- bzw. Waldorfschulen, wovon 32 dieser Privatschulen in der Schweiz stehen. Hier gilt das Credo: «Durch das Erleben zur Erkenntnis». Die ganzheitliche Sicht und Förderung des Kindes stehen im Zentrum.
Jonas Göttin, Klassenlehrer an der Rudolf Steiner Schule Münchenstein (BL), ist überzeugt von dieser Pädagogik. Die pädagogischen Mittel der Staatsschule, die er einst selbst besuchte, «leuchteten mir wenig ein», erklärt er.
Das Wesen des Kindes
Göttin absolvierte die AfaP, die Akademie für anthroposophische Pädadogik, wo man «studiert, um das Wesen des Kindes und dessen Entwicklung zu verstehen». Heute ist er der Überzeugung, dass es «etliche Fähigkeiten und eine solide Basis an Lebenserfahrung» braucht, um diesem Auftrag nachzukommen.
Denn Lehrende nehmen an der Steiner-Schule eine zentrale Rolle ein: Über sechs Jahre hinweg wird die Lehr- zur Bezugsperson, die das Kind in seiner Individualität und Einzigartigkeit erkennen und fördern soll.
Unterrichtet wird im sogenannten Epochen-Unterricht mit Epochen-Heften. Über drei bis vier Wochen hinweg wird zum Beispiel Mathematik gemacht. «Das lässt das Eintauchen in ein Thema zu, fördert aber auch das Durchhaltevermögen.»
Sitzenbleiben, nein danke
Themen werden nach der Entwicklungsstufe des Kindes gewählt: «In der 1. Klasse etwa Märchen, in der 5. Klasse die Griechen.»
Eine Note reduziert eine Leistung auf eine Zahl.
Die Inhalte tragen die Lehrenden selbst vor, zeichnen vieles an die Tafel. Die Kinder werden aktiv in den Prozess einbezogen, füllen ihre Hefte und werden kreativ oder handwerklich tätig. Hier gibt es kein Sitzenbleiben und Noten werden auch erst in den Abschlussklassen eingeführt.
«Eine Note reduziert eine Leistung auf eine Zahl, ohne Blick auf die Entwicklung des Kindes. Sie erhöht Leistungsdruck und Konkurrenzdenken», ist sich Göttin sicher.
Zwischen Modernisierung und Dogma
Ob in der Lehrer-Bibliothek, den täglichen Morgensprüchen oder der Inneneinrichtung, Steiner ist hier allgegenwärtig. Führt diese Präsenz nicht zu Problemen, immerhin sind Steiners Pädagogik-Vorträge bald 100-jährig und teils überholt?
Schwierigkeiten entstehen, wenn dogmatisch an Steiners Aussagen festgehalten wird.
Modernisierungsbestrebungen der Pädagogik Steiners gäbe es konstant, erzählt Göttin. «Schwierigkeiten entstehen, wenn es an Weitsicht und Offenheit fehlt, sich mit den jetzigen Herausforderungen wirklich zu befassen und dogmatisch an Steiners Aussagen festgehalten wird.»
Damit deutet Göttin an, was in den vergangenen zwei Jahren intensiv durch die Presse ging: Die in verschiedenen Steiner-Schulen deutlich erhöhte Ablehnung der Corona-Massnahmen. «Wir haben uns damals entschieden, die persönliche Meinung aussen vorzulassen und eng mit dem Kanton zusammenzuarbeiten.»
«Wurzelrassen» & Co.
Das ist vielleicht die Krux mit Steiner: Wer tatsächlich glaubt, dass er hellsichtig war, und also auch seine zahlreichen verstörenden Aussagen über «Geisterwelten», «Astralleiber» und «Wurzelrassen» für bare Münze nimmt, dem fehlt es allenfalls an Offenheit für Anpassungen und Reformen.
Doch man hat den Eindruck, dass die allermeisten, die für Steiners Erbe Geld ausgeben, ohne weiteres auf Steiners esoterischen Überbau verzichten können. Kosmische Kräfte hin oder her, Hauptsache es hilft und fühlt sich gut an, dürften sie denken. Was Steiner wohl dazu gesagt hätte?