Als Stefanie Neubrand noch Praktikantin in der Psychotherapie war, machte sie in einer Gruppentherapie eine Beobachtung: Dass Menschen scheinbar selbstverständlich empathisch waren, sich in andere einfühlen konnten – aber kaum in sich selbst. Ihre eigenen Gefühle zu verstehen und auszudrücken, fiel ihnen schwer. Das hat Neubrand irritiert.
Auf Tuchfühlung mit sich selbst
Heute hat Stefanie Neubrand als Professorin für Psychologie und Therapeutin die Impathie zum Forschungsgebiet gemacht. Impathie ist – vereinfacht ausgedrückt – nach innen gerichtete Empathie. Im Alltag kann das schwerfallen: Wenn man Vorsätze im Januar schon kippt. Wenn man stockt beim Vortrag. Wenn man die Mutter wieder anschnauzt. «Wenn Selbstkritik harsch wird, ist es schwierig, mit sich verbunden zu bleiben», so Neubrand. Da setzt Impathie an.
Wie kann ich impathisch sein? Neubrand macht ein Beispiel: Ich spüre einen Kloss im Hals. Die impathische Reaktion darauf sei, das Gefühl wahrzunehmen, mit meiner Aufmerksamkeit länger dabeizubleiben. Ich verurteile mich nicht dafür. «Vielleicht ist es Traurigkeit?», schlägt Neubrand vor. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich «rauszoomen», darüber reflektieren kann. «Womöglich ist ein geliebter Mensch neulich gestorben, dem ich gern noch etwas gesagt hätte». Impathie zeigt mir, was ich machen könnte, um mich besser zu fühlen: «Etwa der Person einen Brief schreiben.»
Der Gewinn: Impathie stärkt die Beziehung mit sich selbst. «Die bisherige Forschung zeigt, dass Impathie zentral für die psychische Gesundheit ist», so Neubrand. Viele Leute mit hohen Impathie-Werten berichten ihr von einem höheren Selbstwert. Sie neigen weniger zu depressivem Erleben.
Für mich und dich
Je geschulter die Wahrnehmung für einen selbst sei, desto besser könne man auf andere eingehen. Impathische Menschen seien häufig empathisch.
Ganz neu ist das Phänomen nicht. In den 1970er-Jahren schrieb der Pionier der Empathie-Forschung, Carl Rogers, dass «der Mensch sich selbst zum empathischen Begleiter» werden soll. Er meinte die Impathie, aber ohne den Begriff und eine einheitliche Theorie. Neubrand hat nun ein Konzept geschaffen, das Impathie untersuchbar macht.
Zeitgeist?
Ihre Forschung trifft scheinbar den Nerv der Zeit. Beschäftigen wir uns heute geradezu obsessiv mit uns selbst? Das lassen zig Artikel über Selfcare oder viele Achtsamkeitsapps vermuten. Zuletzt trendete auf Tiktok der «Kaffee mit dem jüngeren Selbst». Zweck: Mittels Videoschnipseln dem jüngeren Selbst demonstrieren, wozu man es gebracht hat.
Grundsätzlich findet Neubrand es gut, dass die Qualität der Beziehung mit sich thematisiert wird. Aber soziale Medien verleiteten dazu, sich mit anderen zu vergleichen, statt achtsam mit sich umzugehen.
Neubrand beobachtet in ihrer Praxis, dass «viele Menschen Mühe haben, sich mit ihren Emotionen auseinanderzusetzen.» Obwohl viele sich danach sehnen. Wichtig sei es, wie nach innen geschaut werde.
Kein Egoismus
«Nach innen gerichtete Aufmerksamkeit ist nicht immer gesundheitsdienlich», so Neubrand. «Viele vergleichen sich mit einem idealen Selbst – da verliert man fast immer.» Gutes Impathisch-Sein müsse man üben.
Einen Irrglauben räumt Neubrand aus dem Weg. «Impathisch sein, heisst nicht, egoistisch sein». Es gehe nicht darum, auf Kosten von jemand anderem etwas zu erreichen, sondern um ein tieferes Verständnis von sich selbst.