Helene Bracht wurde als kleines Mädchen zwischen fünf und acht Jahren von ihrem Nachhilfelehrer und Untermieter ihrer Eltern missbraucht. Die Übergriffe hörten erst auf, nachdem ihre Mutter Blut in ihrer Unterwäsche entdeckt hatte. Danach ging alles sehr schnell: Der Peiniger wurde des Hauses verwiesen, und es wurde nie mehr darüber gesprochen.
«Zurück blieb ein verwirrtes Kind zwischen Scham, Schuld, Schande, Schweigen, und dem Verlust jenes Menschen, der es schmeichelnd in einen warmen Kokon gelockt hatte, wo die Welt heil und interessant schien, wo es auserwählt und besonders war.» So beschreibt es Helene Bracht rückblickend. Heute, mit 70, erzählt sie in ihrem Buch «Das Lieben danach» ihre Geschichte.
Jahrzehntelang empfand sich Helene Bracht danach als unbeschadet. Sie schreibt: «Die Geschichte erschien mir viele Jahre lang gänzlich unerheblich.» Mit der Aufarbeitung der Geschichte jedoch erkannte sie Verhaltensweisen an sich, die sie auf den Missbrauch zurückführt.
Als junge Frau hätte sie nicht gewusst, dass man auch «Nein» sagen könne. Im Grunde sei ihr Geniessen immer mit der fixen Idee verbunden gewesen, sie würde sich widerrechtlich etwas nehmen, was ihr nicht zustehen würde. Sie habe ständige Verfügbarkeit geboten und sei der Lust der jeweiligen Partner gefolgt.
Viele kurze Affären waren die Folge – kurz genug, um nicht wieder in die Gefahr neuer Vertrauensbrüche zu gelangen. Und genauso lange, ohne die Kontrolle zu verlieren. «Sobald ich in die Situation komme, mich fallen zu lassen, droht Gefahr. Hingabe ist immer gekoppelt mit Gefahr. Das hat mein Leben durchzogen.»
Leider stehe das im grossen Kontrast zu dem, was Sexualität kann – und Erotik im Grunde meint, so Bracht. Mit dieser Kontrolle konnte ein tiefer, inniger Kontakt – geschweige denn Hingabe – gar nicht stattfinden. Sie hat ihren Partnern nie vom Missbrauch erzählt. Die Vorstellung, die geliebte Person könnte diese brutalen Bilder des missbrauchten kleinen Mädchens im Kopf haben, hätte sie nicht ausgehalten. Deshalb schwieg sie.
Überlebens- und Bewältigungsstrategien
Agota Lavoyer hat als Opferhilfeberaterin hunderten Menschen geholfen, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden. Das sogenannte «Coping» – Überlebens- und Bewältigungsstrategien der Opfer – sei ganz unterschiedlich. Eine häufige Copingstrategie sei Vermeidung: Vermeidung von Situationen, Menschen, Orten oder eben auch die Vermeidung von Nähe und Intimität.
Eine andere typische Coping-Strategie sei das Verdrängen. Das bedeutet, negative und schmerzhafte Erfahrungen nicht in sein Bewusstsein zu lassen, auszublenden und ins Unbewusste abzuschieben. Eine solche Verdrängung kann über viele Jahre aufrechterhalten werden. Lange galt das Verdrängen von Gewalterfahrungen als ungesund, so Lavoyer. Inzwischen würden Studien aber zeigen, dass es für manche durchaus eine funktionierende Strategie sein könne, bis der richtige Zeitpunkt für ein Erzählen und Erinnern gekommen sei.
Das Problem mit Intimität und Nähe
Sexualisierte Gewalterfahrungen in der Kindheit können weitreichende Folgen haben: Manche Betroffene empfinden wenig oder keine Lust. Sie haben Angst, dass ihr Körper ihnen Grenzen setzt oder sie ihre eigenen Grenzen und Wünsche kaum mehr spüren. Möglicherweise reagiert auch der Körper weniger oder gar nicht auf Berührungen, so Lavoyer weiter. Manche der Betroffenen würden das mit einem Gefühl der «Taubheit» beschreiben.
Solange ich es niemandem erzähle, wäre es ja immer noch möglich zu denken, dass das Geschehene nicht so schlimm gewesen ist.
Die Psychotherapeutin Mirjam Della Betta behandelt seit vielen Jahren Menschen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden. Werde ein Kind sexuell ausgebeutet, «lerne» es, dass es einer Person, der es an sich vertrauen können sollte, nicht vertrauen kann. Dies könne verheerende Folgen haben für Arbeits-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen haben – von Vertrauensverlust bis hin zu Vertrauensseligkeit, weil immer die Hoffnung bestehe, dass es irgendwann doch funktionieren müsse.
Dafür nehmen Betroffene unangemessenes, grenzüberschreitendes oder gar gewalttätiges Verhalten in Kauf, ohne sich angemessen zur Wehr setzen zu können, so Della Betta. Sich dann Hilfe und Unterstützung zu holen, sei ein grosser Schritt für die Betroffenen. Manche berichten ihr während der Therapie: «Solange ich es niemandem erzähle, wäre es ja immer noch möglich zu denken, dass das Geschehene nicht so schlimm gewesen ist.»
Sexuelle Übergriffe können auch chronischen Stress, Hypervigilanz (also eine ständige erhöhte Wachheit), Schlafstörungen, Depressionen, Suchtverhalten, Dissoziation (sprich eine Abspaltung von den eigenen Gefühlen und Empfindungen), selbstverletzendes Verhalten, Misstrauen, Gefühle der Ohnmacht, Verzweiflung sowie Einsamkeit zur Folge haben. Der heilsame Prozess mit professioneller Unterstützung, in gewissen Fällen auch mit einer Traumatherapie, seien unerlässlich.
Belastung für die Paarbeziehung
Auch für die Partnerinnen und Partner von Betroffenen kann das Wissen um die sexuelle Ausbeutung eine grosse Herausforderung darstellen. Manche versehen zum Beispiel nicht, weshalb Betroffene nach wie vor Kontakt zur tätlichen Herkunftsfamilie halten und so der tätlichen Person begegnen. So heisst es bei «Castagna», einer Beratungsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit betroffene Frauen und Männer.
Dies könne zu beabsichtigten oder impliziten Schuldzuweisungen führen, welche bei den Betroffenen aufgrund ihrer eigenen Schuld- und Schamgefühle auf fruchtbaren Boden fallen und eine äusserst destruktive Wirkung entfalten könnten.
Andere würden in einen Aktionismus geraten, wollen ihren Partnerinnen helfen und finden es unerträglich, wenn nichts unternommen wird und die tätliche Person ihr Leben unbehelligt weiterführen kann. Sie merkten dann häufig nicht, welchen Druck sie mit einem solchen Verhalten ausüben würden. Daher entscheiden sich betroffene Personen manchmal, nicht mehr über das Erlebte und ihre Gefühle zu sprechen. Oder sie entfremden und isolieren sich innerhalb der Paarbeziehung.
Wiedergewonnene innere Freiheit
Zurück zu Helene Bracht: Obwohl ihre frühe toxische Bindungserfahrung mit dem Nachhilfelehrer ihr Vertrauen und ihre Intimität ein Leben lang kontaminiert hätten, habe sie endlich einen Weg in ein glückliches Leben gefunden. Bis dahin hatte sie viele unschöne Erfahrungen machen müssen: Sie wurde Opfer eines «Love-Scammers», der sie belog und ausnutzte, sie verlor sich auf «Seitensprung-Plattformen», sei zu einer «beruflich erfolgreichen, alleinstehenden Frau mit einem etwas undurchsichtigen Liebesleben geworden.»
Heute erfahre sie Autonomie, bewege sich in einem Möglichkeitsraum innerer Freiheit, und spüre, wie die unglaubliche Enge, das Korsett der Erwartungserwartungen, von ihr gewichen sei. Sie hätte den Missbrauch als Kind überlebt, bilanziert sie. Gleichzeitig sei ihr Leben nicht nur ein Überleben gewesen, sondern trotz allem ein richtiges Leben.