Eine Beobachtung in der Kaffeepause: Ein Grüppchen versammelt sich an der Kaffeemaschine und redet über den Workshop zu sexualisierter Gewalt, den sie besuchen mussten. Ein Arbeitskollege murmelt: «Es kann gar nicht sein, dass dermassen viele Profifussballer Vergewaltiger sein sollen!»
Andere nicken. «So viele Anklagen wegen Vergewaltigungen. Absurd, dieses Ausmass.» Der allgemeine Tenor: Frauen lügen!
«Das ist eine gesellschaftliche Krise»
«Solche Diskussionen sind es, die ich am häufigsten beobachte», erzählt Agota Lavoyer. Die Bernerin gilt als eine der renommiertesten Expertinnen der Schweiz zu sexualisierter Gewalt. Sie gibt Workshops und hält Vorträge – im Publikum sitzen 90 Prozent Frauen, non-binäre und queere Menschen.
Jetzt hat sie ein neues Buch veröffentlicht. Es heisst «Jede_ Frau». Denn die Frage sei nicht, ob eine weiblich gelesene Person irgendwann sexuell belästigt werde, sondern wann, wo und von wem, schreibt Lavoyer.
In ihrem Buch zitiert sie aktuelle Zahlen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland. Diesen Zahlen zufolge erlebt jede dritte Frau in ihrem Leben einen körperlichen, sexualisierten Übergriff. 97 Prozent der Frauen haben sexuelle Belästigung in Form von Nachrufen und Pfeifen («Catcalling») erlebt.
Die Täter sind in überwiegender Mehrheit cis-Männer. «Das ist eine vordringliche gesellschaftliche Krise», so Lavoyer.
Gängiges Schema: die Opferschelte
Die Fussballer-Debatte gehört zur Kategorie « Victim Blaming », also Täter-Opfer-Umkehr. Das passiere in einer Gesellschaft, die «lieber fragt, wieso eine Frau sich so sexy angezogen hat, wieso sie getrunken hat, wieso sie mit zu ihm nach Hause gegangen ist oder wieso sie ihn nicht schon früher verlassen hat, als zu fragen, wieso er es getan hat», schreibt Lavoyer in ihrem Buch.
Der Fokus ist auf der Frau, die ihr Verhalten ändern soll, um nicht Opfer zu werden – anstatt Männer darin zu hindern, sexualisierte Gewalt auszuüben.
«So vieles wird in unserer Kultur kritisiert, aber der Fokus liegt nicht auf der Gewalt selbst. Das macht mich wütend», sagt die Expertin. Die Kultur, von der sie spricht, ist die sogenannte «Rape Culture». Womit wir beim Hauptthema ihres Buches sind.
Die Pyramide der Probleme
Die Rape Culture, also die Kultur der sexualisierten Gewalt, solle man sich als Pyramide vorstellen. Üblicherweise wird über die Spitze der Pyramide, die Vergewaltigung, berichtet und gesprochen.
Sexualisierte Gewalt ist aber nicht nur die Vergewaltigung. Es ist die anzügliche Bemerkung des Onkels am Familientisch, die man als 11-jährige Person noch nicht versteht. Das «Catcalling». Das Anstarren. Das «Dick Pic», das man ungefragt zugeschickt kriegt.
Alles, was die sexuelle Integrität verletzt.
Der Nährboden dieser Pyramide, die Basis, sind all die Ideologien und Narrative unserer Gesellschaft – einer patriarchal geprägten Gesellschaft mit dem weissen cis-Mann als Norm.
Es geht uns alle etwas an
Die Weinstein s, die Depardieu s, die Lindemann s, die Rubiales ' und wie sie alle heissen: Über diese Fälle wurde breitenwirksam berichtet. Problematisch sei gemäss Lavoyer, dass in den Medien sexualisierte Gewalt an krassen Einzelfällen aufgehängt wird. Es seien aber keine einzelnen Zufallsdelikte, sondern habe System.
«Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das uns alle betrifft», so Lavoyer. «Zu behaupten, man habe keine Berührungspunkte mit sexualisierter Gewalt, ist schlicht ignorant.»
Aufgeblasene Debatte?
Genau das entgegnete ein Bekannter, als Agota Lavoyer ihm erzählte, wie entmutigend es sei, dass kaum Männer an ihre Referate kämen. Es sei logisch, dass Männer sich nicht so für das Thema interessierten, so der Familienvater.
Heutzutage würde ja in allem Sexismus gesehen. Die gesellschaftliche Debatte über sexualisierte Gewalt? Wirke aufgeblasen. Von dieser Auseinandersetzung erzählt Lavoyer im Buch.
Es wird klar, in solchen Fällen ist auch ihre Geduld am Ende. Fragen wie die, warum es noch so ein Buch brauche, «kommen nur von Menschen in einer privilegierten Position», sagt sie.
Wer der Norm entspreche, vergesse oft, dass es die Norm gibt – vor allem, wenn man sich nicht mit seiner Machtposition auseinandersetzt. «Das ist, als ob eine weisse Person sagen würde: ‹Ach, schon wieder ein Buch über Rassismus›.»
Wie also schafft man es, dass sich alle – mein Partner, mein Bruder oder mein Kumpel – für das Thema interessieren? Bekehren könne man niemanden, so Lavoyer.
«Sag der Person, es sei dir ein Anliegen, dass sie sich mit dem Thema beschäftigt und sag ihr, welche Bücher, Podcasts oder Instagram-Accounts dir geholfen haben, zu verstehen.» Es sei heute einfacher denn je, an Informationen zu kommen.
Die Expertin ganz persönlich
Selbst die Aktivistin und Expertin ist manchmal müde. Sie erzählt von Gesprächen im Privaten. «Diese Diskussionen sind häufig anstrengend und zermürbend, und man riskiert immer, erneut abgewertet zu werden.»
Die persönliche Färbung in Agota Lavoyers Buch ist neu. Man erfährt viel über sie. Seit zehn Jahren arbeitet sie in diesem Bereich, hat sich aber nie exponiert.
Wieso? Aus Angst, darauf reduziert zu werden. Als Expertin nicht mehr ernst genommen zu werden. Aber auch sie sei «Jede_ Frau», der nachgepfiffen wurde, die gestalkt wurde, unangenehm berührt und vergewaltigt wurde.
Sie will mit dem Buch erreichen, dass Zusammenhänge verstanden werden. Etwa zwischen all den verschiedenen Diskriminierungsformen.
«Jede_ Frau» sei eben auch die nicht-weisse Frau, die fetischisiert wird. Und die mehrgewichtige Frau, der abgesprochen wird, Ziel eines sexualisierten Übergriffs zu sein. Wieso? Weil sie als nicht begehrbar gilt. Und die trans Frau, die viermal so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen ist wie cis Frauen.
Rape Culture entlernen
Wir alle würden in der Rape Culture leben, seien also so sozialisiert worden – und reproduzierten diese auch, so Lavoyer. Was können wir also tun, um sich derer zu entledigen?
Zurück zur Pyramide: Wir sollen nicht an der Spitze ansetzen, sondern beim Fundament. «Dort können wir alle tagtäglich etwas bewirken, indem wir etwa patriarchale Muster und toxische Geschlechterstereotypen durchbrechen.»
Indem wir intervenieren, wenn wir in der Teamsitzung merken, dass stets die Männer zu Wort kommen. Indem wir bei sexistischen Witzen nachhaken. Indem wir Leserbriefe schreiben, wenn sexualisierte Gewalt in Schlagzeilen verharmlost wird. Indem wir das Gespräch mit der Schulleitung suchen, wenn Mädchen angehalten werden, nicht so kurze Shorts zu tragen, da sie sonst Jungs ablenken würden.
Der Kampf soll nicht den Kleidungsstücken gelten, sondern der Rape Culture.
Das alles trage dazu bei, das Ausmass an sexualisierter Gewalt zu vermindern, meint Agota Lavoyer. Und Aufholarbeit gäbe es einige zu erledigen. «Wir hinken – wie so oft – hinten nach. Die Debatte um Rape Culture hat im angelsächsischen Raum schon viel früher angefangen.» Gewisse Länder hätten schon vor Jahren ihr Sexualstrafrecht reformiert.
In der Schweiz tritt das revidierte Sexualstrafrecht nun am 1. Juli in Kraft. Damit aktualisiert die Schweiz ihre Definition von Vergewaltigung. Die Reform hätte weitreichender sein können, sagt Agota Lavoyer, aber ein erster wichtiger Schritt sei getan.