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Sinnieren über Scham Philosoph: «Wer Flugscham empfinden kann, gehört zur Elite»

Schämen Sie sich für den Flug nach Barcelona oder das Sonntags-Steak? Das Schamgefühl ist eigentlich zeitlos – doch gerade in Zeiten von Klimakrise und Impfdebatten brandaktuell. Der österreichische Philosoph Robert Pfaller setzt sich in seinem neuen Buch «Zwei Enthüllungen über die Scham» mit der Scham auseinander – für ihn ist die Scham heute ein Luxusartikel.

Robert Pfaller

Philosophie-Professor

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Robert Pfaller ist Professor für Philosophie und Kulturtheorie an der Kunstuniversität Linz. Im Essay «Zwei Enthüllungen über die Scham» nimmt er unseren Umgang mit der Scham unter die Lupe.

SRF: Scham sei heute ein Luxusartikel, sagen Sie. Was meinen Sie damit?

Robert Pfaller: Heute gibt es viele Menschen, die stolz auf ihre Scham sind. Sie bekennen sich selbstbewusst dazu, dass sie jemanden peinlich finden und sich für den anderen fremdschämen. Das ist ungewöhnlich.

Wer Flugscham empfinden kann, gehört zur Elite.
Autor:

In den üblichen Fällen und in der Fachliteratur der Psychoanalyse schämt man sich seiner Scham. Heute haben Menschen dieses Schamgefühl anscheinend verloren und schämen sich gerne. Das ist offenbar deshalb so, weil sie durch das Schämen einen Distinktionsgewinn erzielen: Sie können dadurch zeigen, dass sie etwas Besseres sind.

Aber diese Scham entspringt einem Überfluss. Weil wir alles haben, können wir uns auch schämen. Wenn wir zu viel fliegen und das öffentlich sagen, zeigen wir: Ich bin mir dessen bewusst und ich möchte mich bessern.

Auch das ist ein absolutes Luxusphänomen. Man darf nicht vergessen, dass es selbst in der Schweiz breite Bevölkerungsgruppen gibt, die noch nie in ein Flugzeug steigen konnten. Diejenigen, die nicht nur fliegen, sondern dazu sogar noch Flugscham empfinden können, sind ganz entschieden eine Elite. Und die Scham weist sie auch als Angehörige der Elite aus.

Wie steht es um die Fremdscham – wenn man sich für jemanden anderes schämt: Ist das ein sozialer Akt?

Das ist einer der interessantesten Aspekte an der Scham. Einer, der einem zu denken geben muss. Man schämt sich nämlich nicht nur für jemanden. So wie vielleicht eine Betreuungsperson für einen Doktoranden auf der Universität oder umgekehrt die Doktoranden für ihren Professor, wenn der einen blöden Artikel in der Zeitung schreibt. Da gibt es immerhin noch eine Verbindung, durch die man sich ein bisschen verantwortlich fühlt für den anderen.

Eigentlich würde die Scham gebieten, dass man etwas schamhaft verschweigt.
Autor:

Ganz anders ist es beim Schämen für eine völlig fremde Person. Sie sehen jemanden im Fernsehen oder auf der Strasse und schämen sich für ihn fremd. Das zeigt aber im Umkehrschluss etwas über die Scham: Sie ist eigentlich ein solidarisches Gefühl, eine Peinlichkeit betrifft immer alle. Bei der Scham darf man sich nicht nur selbst keine Blösse geben. Auch alle anderen sind verpflichtet, darüber hinwegzusehen und so zu tun, als ob diese Blösse nicht existiere. Hier stossen wir auf die solidarische Seite der Scham.

Diese Solidarität fehlt, wenn man sich für andere fremdschämt und das in die Welt hinausposaunt. Man kann dieses Schamgefühl schon empfinden, aber eigentlich würde die Scham gebieten, dass man das eben schamhaft verschweigt.

Hat das auch damit zu tun, dass die guten Argumente fehlen und man dann jemandem sagt: «Du solltest dich schämen»?

Ganz bestimmt. Das ist wieder ein neuer Aspekt. In vielen politischen Auseinandersetzungen beobachten wir im Moment solche Schamforderungen oder Schambehauptungen. Diese sind natürlich in ganz besonderer Weise infam, weil sie den Gegner völlig wehrlos machen.

Wenn Sie sagen, Sie schämen sich für mich und ich soll still sein, dann habe ich ja kein Argument mehr zur Verfügung. Ich bin beschädigt in meinem Ansehen und kann eigentlich nur verschwinden. Das ist auch das Ziel bei diesen Attacken. Bezeichnend ist, dass es dieser Art des Angriffs völlig an Argumenten fehlt.

Das Gespräch führte Simone Hulliger und ist ein Auszug aus dem Echo der Zeit.

Buchhinweis

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Robert Pfaller: «Zwei Enthüllungen über die Scham». Fischer, 2022.

Radio SRF, Echo der Zeit, 08.06.22, 18:00 Uhr ; 

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