Zum Inhalt springen

Soziologe Bruno Latour ist tot «Er plädierte für eine grosse Demut gegenüber der Natur»

Der französische Soziologe Bruno Latour wird auch nach seinem Tod Spuren hinterlassen – etwa als Leitfigur der Klimabewegung.

Bruno Latour, der am Wochenende gestorben ist, galt als Erneuerer der Sozialwissenschaften. Mit seinen Schriften zum wissenschaftlichen Arbeiten eckte er in der Wissenschaft auch an.

Dennoch war der französische Intellektuelle überaus populär. Der Philosoph Yves Bossart erklärt, woher diese grosse Popularität rührt.

Yves Bossart

Moderator und Philosoph

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Yves Bossart, geboren 1983, ist promovierter Philosoph und arbeitet als Redaktor und Moderator für die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» .

SRF: Was machte Bruno Latour zu einem populären Soziologen?

Yves Bossart: Bruno Latour war ein Vordenker und eine Leitfigur der Klimabewegung. Er plädierte in den letzten Jahrzehnten für ein radikales Umdenken, was das Verhältnis Mensch­–Natur angeht. Wir seien nicht die Krone der Schöpfung, sondern ein Teil der Natur. Und diese Natur, die seien wir im Begriff zu zerstören und auszubeuten.

Bruno Latour fand, die Natur und die Gesellschaft seien untrennbar miteinander verbunden.

Zudem war er nicht nur Soziologe und Philosoph, sondern ein öffentlicher Intellektueller. Er war sehr originell, hat populäre Vorträge gehalten und immer wieder auf aktuelle Ereignisse Bezug genommen – zuletzt auf die Pandemie.

Latour beschäftigte sich stark mit der Klimapolitik und kritisierte die Globalisierung. Welche Spuren hinterlässt er?

Er hatte eine grosse Wirkung und war Mitbegründer der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie. Die besagt, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die Natur handelt, eine Stimme und vielleicht sogar Rechte hat. Latour sprach sogar von einem «Parlament der Dinge». Er fand, die Natur und die Gesellschaft seien untrennbar miteinander verbunden.

Den Sauerstoff haben Pflanzen über Milliarden von Jahren für uns hergestellt.

Latour hat ziemlich radikal für ein neues Welt- und Menschenbild plädiert. Gegen das selbstherrliche Bild des modernen Menschen mit Fortschritt, Freiheit und der Ausbeutung der Natur. Er sagte, der Mensch sei nicht souverän, sondern zutiefst abhängig. Die Moderne als Epoche sei vorbei und wir müssten wieder verstehen, dass wir auf der Erde leben, von der wir abhängig sind.

Bruno Latour war auch Wissenschaftsphilosoph, hat sich aber unter den Wissenschaftlern nicht nur Freunde gemacht. Er schrieb in einem seiner Werke: «Fakten und Tatsachen werden nicht entdeckt, sondern fabriziert.» Was meinte er damit konkret?

Er hatte diese These in den frühen Schriften der 70er- und 80er-Jahre aufgestellt. Latour war ein Vertreter des Konstruktivismus, glaubte also, dass Fakten gemacht und konstruiert sind. Auch wissenschaftliche Fakten würden im Labor durch bestimmte Prozeduren, Apparate, Arbeitsgruppen, Modelle und soziale Praktiken konstruiert. Objektivität werde also hergestellt. Er sah das ähnlich wie bei einem Gericht: Wenn jemand schuldig ist, dann deswegen, weil er in einem regulären Prozess schuldig gesprochen wird.

Welche prägnanten Gedanken, Ansichten hinterlässt Bruno Latour?

Er plädierte für eine grosse Demut gegenüber der Natur. Wir leben nicht einfach auf der Erde im Universum, sondern in der kritischen Zone, wie er sagte. Ich finde das ein unglaublich starkes Bild: Da ist eine hauchdünne Schicht, einige Kilometer über der Erde, in der es genug Sauerstoff gibt für uns Menschen. Und diesen Sauerstoff haben die Pflanzen über Milliarden von Jahren für uns hergestellt. Wir sind gefangen in diesem fragilen Netz der Natur.

Ich glaube, das ist das Wichtigste: Er hat uns zu diesem radikalen Umdenken angeleitet und gesagt: Die Bewohnbarkeit des Planeten muss in Zukunft das oberste politische Ziel sein. Es werde sich so etwas wie ökologisches Klassenbewusstsein bilden.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 10.10.2022, 17:10 ; 

Meistgelesene Artikel