Er ist selbsterklärter Hundeskeptiker – sie selten ohne ihre Hündin Leya unterwegs. Der Hörspielmacher Claude Pierre Salmony sagt: «Hunde, die alle ursprünglich vom Wolf abstammen, sind durch die lange Zucht Schöpfungen des Menschen nach seinen Bedürfnissen geworden.» Und die Journalistin Valeria Wieser findet: «Ich werde fast jeden Tag von Fremden auf meinen Hund angesprochen – ich mag das.»
Wir treffen uns zum Hundespaziergang am Luzerner Seebecken. Weil sich Hündeler und Skeptiker zwar viele Aversionen teilen, aber selten miteinander sprechen.
In der Schweiz teilen sich 9 Millionen Menschen die Wälder, Parks und Seepromenaden mit rund 560'000 Hunden. Überforderte Hundehalter auf der einen Seite – Vorurteile und Ängste auf der anderen: Fehlt es an Toleranz? An klaren Regeln? Oder einfach am gegenseitigen Verständnis? Antworten anhand von fünf Thesen.
These 1: «Hündeler» und Skeptiker haben kein Verständnis füreinander
Valeria Wieser, die sich als Tier- und Menschenfreundin bezeichnet, erlebt kaum Konflikte mit anderen Passanten oder Hunden. Im Gegenteil: «Wenn ich mit Leya unterwegs bin, habe ich schöne Begegnungen und tolle Gespräche. Sie ist eine entspannte Hündin und oft ein Eisbrecher.» Trotzdem sei die Debatte um Hunde sehr emotionalisiert und ein neutraler Austausch oft nicht möglich.
«Die Dichte und die Quantität verändern die Probleme. In der Schweiz gibt es alles, nur keinen Boden», sagt Claude Salmony. Ein Kanadier habe ihm mal gesagt, die Schweiz sei eine «Stadt mit Grünzonen dazwischen». Die Enge mache das Problem wohl grösser, als es sein müsse: «Der Hund gehört dennoch nicht zu meinen vordringlichen Problemen.»
Claude Salmony ist Tieren gegenüber nicht abgeneigt – er ist in einem Haushalt mit Hunden aufgewachsen und hatte einst zwei Katzen. Aber heute hinterfragt er die westliche, urbane Haustierhaltung: «Hunde sind unsere ältesten Haustiere und durch Züchtung und Dressur menschengerichtet. Dieses Verhältnis ist ein hierarchisches, und als Machtskeptiker hinterfrage ich das.»
Ich bin ein Hygieneneurotiker. Hunde begreifen das nach kurzer Zeit.
Der studierte Philosoph ergänzt: «Die Hundeleine ist ein hübsches Symbol für Nietzsches These vom ‹Willen zur Macht› als Grundanlage des Menschen, die Leinenenden ein Symbol für Hegels ‹Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft›, die eben gegenseitig voneinander abhängig sind.»
Trotz des grossen Vertrauens in ihren Hund sieht auch Valeria Wieser in der Haltung ein Machtgefälle. «Es braucht mich als Alphatier, sonst funktioniert das Zusammenleben nicht.» Heisst: Sie gibt Grenzen vor, übernimmt aber auch Verantwortung, wenn Leya mit einer Situation überfordert ist.
These 2: Nicht die Tiere, sondern die Haltenden sind das Problem
Dem Problemverhalten der Hunde liegt oft ein Fehler in der Erziehung zugrunde. Wer hingegen seinen Hund und dessen Körpersprache kennt, kann Konflikte verhindern. Schwere Vorfälle sind aber selten: Von jährlich 40’000 Freizeitunfällen mit Tieren in der Schweiz passieren etwa 15 Prozent mit Hunden (ein Drittel davon beim Gassigehen). Gefährlicher sind laut Suva-Statistik Insekten .
Es sind eher Dinge wie Hundekot, die alle verärgern – auch andere Hundehalter. «Es wäre so einfach, diese Konflikte zu verhindern», sagt Wieser. Sie sieht die Probleme meist beim Menschen. Einen Hund zu halten, sei anspruchsvoll, aber auch sehr lehrreich: «Ich lerne quasi eine neue Sprache, lerne meinen Hund zu lesen.» Die körperlichen Signale richtig zu deuten, brauche Erfahrung, Empathie und Sensibilität. «Ein Zugang zu einem Tier ist ein Gewinn und verändert auch mich als Mensch.»
Hunde sind nicht dafür gemacht, längere Zeit allein zu sein.
Sie hat das Glück, dass Leya eine entspannte Hündin ist. «Sonst würde ich ihr, aber auch meinem Umfeld, weniger zumuten. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass man sich vor Hunden fürchtet oder sie nicht mag. Es ist auch eine Frage des Respekts, dass ich das spüre und Abstand halte.»
Auch Hunde merken, wenn jemand Abstand will, weiss Claude Salmony aus Erfahrung. «Ich bin ein Hygieneneurotiker. Hunde begreifen das nach kurzer Zeit und halten Abstand und springen nicht auf meinen Schoss.» Er ist der Meinung, dass man Hund und Mensch nicht getrennt betrachten kann. «Es gibt rund 300 Hunderassen und teils groteske Schöpfungen. Das spiegelt in gewisser Weise uns als Mensch wider.»
In der Kommunikation mit Hunden beobachtet er öfter eine «Regression im Tonfall», die ihn abstösst. «Für mich ist das ein Schritt aus der Erwachsenenwelt.» Valeria Wieser kennt das – sie werde oft «Mami» ihres Hundes genannt. «Das irritiert mich jeweils. Diese Vermenschlichung führt zu einem seltsamen Gefälle.»
These 3: Auch Nicht-«Hündeler» sind in der Pflicht
Wenn der Beschützer auf einmal zur Bedrohung wird, hat das auch mit mangelnden Kenntnissen zu tun. «Dies führt zu falschem Verhalten bei Begegnungen, wodurch heikle Situationen entstehen. Besonders wenn Kinder dabei sind», heisst es etwa in der Präventionskampagne «Codex Hund» , die das Zusammenleben im Kanton Zürich verbessern will. Dort heisst es an die Adresse von Nichthundehaltern: «Passanten sollten Hunde mit grosszügigem Abstand und in ruhiger Gangart passieren und ihm nicht in die Augen blicken.»
Claude Salmony fühlt sich nicht generell unwohl in Gesellschaft von Hunden – mit einer Ausnahme: «Ich esse nicht gern in Räumen, wo Tiere sind. Wenn es um Essen oder Schlafen geht, gibt es bei mir eine Ekelbarriere.» Er begegnet Hunden grundsätzlich respektvoll. Dazu gehöre, dass man sie nicht ungefragt anfasse. Valeria Wieser nimmt Mitmenschen – auch Kinder – diesbezüglich meist höflich wahr: «Sie fragen, ob sie den Hund berühren dürfen.»
Und was tun als Spaziergänger, wenn man Hundehaltenden begegnet, die Regeln missachten und ihre Verantwortung nicht wahrnehmen? «Wer Angst vor Hunden hat, darf ohne Weiteres fordern, dass ich den Hund nah zu mir nehme», findet Valeria Wieser. «Wenn das Hundehalterinnen nicht ernst nehmen, finde ich das ignorant.»
Claude Salmony plädiert im Zusammenleben für mehr Gelassenheit und Humor: «Jeder spinnt auf seine Weise, ob mir das gefällt oder nicht.» Und bei einem Minimum an Wohlwollen würde vieles im Zusammenleben auch ohne Regulierung funktionieren. «Ob mit oder ohne Hund: Alle Menschen, die sich im öffentlichen Raum begegnen, sind in der Pflicht, zu einer guten Stimmung beizutragen.»
These 4: Es gibt zu wenig Raum, wo sich Hunde frei bewegen können
Wir sind an einem winterlich ruhigen Sandstrand am Vierwaldstättersee angelangt – Leya muss an der Leine bleiben, auch wenn die Entenspuren locken. Braucht es mehr Hundefreilaufzonen? Wo sich die Vierbeiner frei bewegen, herumrennen und auch mal laut und wild sein dürfen? Oft sind solche Zonen in Städten Gegenstand von kontroversen Diskussionen.
«In Städten muss ich mir vor allem überlegen, ob ich den richtigen Hund dafür habe», sagt Valeria Wieser. Ihre Leya hat nicht den unbändigen Drang herumzurennen – bei einem Windhund sähe das wohl anders aus.
Noch wichtiger sind die Lebensweise und die Bereitschaft der Besitzenden, ihren Hund so in Kauf zu nehmen, wie er ist. «Man muss sich auf sehr viel Neues einlassen, erst recht bei einem Hund mit einer Vorgeschichte.» Viele unterschätzen die Bedürfnisse und den Zeitbedarf ihrer Hunde: «Sie sind nicht dafür gemacht, längere Zeit allein zu sein», sagt sie.
These 5: Die Regeln sind ein Flickenteppich
Besuche von Hundekursen sind in der Schweiz seit 2017 nicht mehr obligatorisch. Nur für bestimmte Rassen und in gewissen Kantonen gibt es weiterhin ein Kursobligatorium oder Verbote bestimmter Rassen. «Obligatorische Kurse sehe ich als sinnvoll, obwohl die Arbeit am eigenen Hund damit längst nicht getan ist», sagt Wieser.
Ein nationales Hundegesetz fehlt in der Schweiz, jeder Kanton hat eigene Vorschriften. Aber: Weil Hunde besonders eng mit dem Menschen zusammenleben, ist der Umgang mit Hunden in der Schweizer Tierschutzverordnung geregelt. Dort ist etwa ein «täglicher Auslauf» vorgeschrieben: Angebundene Hunde müssen sich mindestens fünf Stunden pro Tag frei bewegen können.
Ich kann aber Regeln nur einhalten, wenn ich weiss, was wo gilt. Valeria Wieser wäre darum für eine Vereinheitlichung der Regeln. Sogar innerhalb ihres kleinen Wohnkantons Zug sind die Vorschriften von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. «Elf Gemeinden und so viele verschiedene Regeln, das ergibt wenig Sinn», seufzt sie.
Fazit: mit dem Willen der Tiere
Claude Salmony legt zum Schluss des Spaziergangs eine Lektion nahe, die ihm ein Erlebnis in Ghana erteilt hat: «Natur kann Angst machen, ich habe das bei einer Invasion von Ameisen im Regenwald erlebt, und es hiess: Auf keinen Fall bekämpfen oder aufhalten! Sondern mit Hilfsmitteln umleiten, sodass die Ameisenstrasse ungestört am Hof vorbeigehen kann. In der von ihnen nicht beherrschbaren Situation haben die Ortsansässigen mit dem Kollektivwillen der Tiere gearbeitet.»
Ein Umgang, der den Willen der Tiere berücksichtigt – von dieser Handlungsweise könnten wir auch in urbanen Zusammenhängen profitieren: Beobachten, analysieren, voneinander lernen.