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Wie viel Hund braucht der Mensch?
Aus Kontext vom 29.12.2023. Bild: Keystone / Laurent Gillieron
abspielen. Laufzeit 27 Minuten 59 Sekunden.
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Trend bringt Probleme Wie viel Hund verträgt unsere moderne Gesellschaft?

Der Boom zeigt: Menschen brauchen ganz offensichtlich Hunde. Darum sind neue Regeln und eine bessere Verständigung nötig.

Der Hund als Haustier und Begleiter ist im Trend – nicht erst seit Corona. Die Hundedichte in der Schweiz nimmt schon seit Jahren zu, wie die Statistiken zeigen.

«Neu seit Corona ist hingegen die Zunahme von ‹Problemhunden› und eine neue Art von Hundebesitzerinnen und -besitzern», sagt Shirin Scheidegger, die zusammen mit ihrem Mann Alain die Hundeschule Pro Cane in Rheinfelden betreibt. Menschen mit hohem Arbeitspensum, die aufgrund des Lockdowns viel Zeit zu Hause verbrachten und sich dabei – aus verschiedenen Gründen – einen Hund wünschten.

Zähne statt Dankbarkeit

Doch auf die Schnelle ist bei keinem seriösen Züchter ein Hund zu kriegen, auch die Tierheime waren schnell leer und so blieben nur der Verzicht oder der Gang ins Internet: Süsse Welpen oder verlassene Hunde stehen da im Angebot, viele sofort lieferbar. Meist schlecht sozialisierte Tiere prallten so auf Hunde-unerfahrene Menschen.

Das süsse oder gerettete Hündchen entpuppte sich oft als verstörtes Tier, zeigt Zähne statt Dankbarkeit und will keine Küsschen geben, sondern zubeissen und wimmert stundenlang: wenn es allein ist und bellt, wenn es seine Tage im Büro verbringen sollte.

Viele sind schlecht erzogen

Tierliebe und Tierquälerei liegen nahe beieinander, die Hunde beschweren sich, denn sie möchten lernen, spielen, rennen, schlafen, schnüffeln, dabei sein – und das teilen sie mit. Wenn ihnen da niemand zuhört, werden sie laut. Oder gefährlich.

«Wir haben vermehrt unerfahrene Hundebesitzer mit solchen Hunden», stellt Alain Scheidegger fest. «Die Leute kommen und sagen, ihr Hund sei böse, frech – oder dominant. Ich schaue mir die Hunde an und stelle fest: Die sind nicht frech – oder böse. Sondern Mensch und Hund reden aneinander vorbei.»

560’000 Hunde leben zurzeit in der Schweiz, viele sind schlecht oder falsch erzogen. Und so ärgern sich Menschen, die Hunde ohnehin nicht mögen, über Gekläff, jagende Hunde im Wald, Kot auf den Strassen, Beissunfälle und Tierquälerei.

Die Sprache der Hunde lernen

Fast noch mehr ärgern sich allerdings viele, die Hunde eigentlich mögen. Weil sie wissen, dass diese Unannehmlichkeiten vermeidbar wären, wenn Hundebesitzende bereit und fähig wären, sich auf eine zeitgemässe Partnerschaft mit ihren Hunden einzulassen.

Sitz und Platz, ein bisschen Futter und ansonsten «ganz viel Liebe» reichen längst nicht mehr. «In der Wissenschaft ging man bis noch vor 20 Jahren davon aus, dass ein Hund nicht viel mehr Emotionen kennt als Angst und Hunger», erzählt Shirin Scheidegger. In der Zwischenzeit wurde das Tier intensiv erforscht. «Die Wissenschaft hat den Hund als soziales Rudeltier neu beschrieben, hat Sozialverhalten, Emotionen und Sprache entschlüsselt», so Shirin Scheidegger.

Ein Hund mit gekrausten Haaren an der Leine am Waldrand.
Legende: Am Waldrand müssen Hunde während der Brutzeit in vielen Kantonen an die Leine. Keystone / Michael Buholzer

Die Forschung hat auch gezeigt, wie eine gute Welpenkinderstube funktioniert, wie die Hundemama den Jungen Anstand beibringt und ihnen die Welt zeigt. Fehlt diese Sozialisation – wie es zum Beispiel bei der kommerziellen und unseriösen Welpenproduktion der Fall ist – haben Hundekinder kaum die Chance, das Verpasste zu lernen.

Die nachträgliche Sozialisation ist schwierig

Solche Hunde und ihre Besitzerinnen und Besitzer kommen bei Scheidggers beispielsweise in den Kurs für «Angsthasen und Pöbler» und machen dort in kleinen Schritten positive Lernerfahrungen, damit sie einigermassen gesellschaftsverträglich werden.

Wir müssen lernen, Hunde richtig zu lesen, weil wir sie sonst völlig falsch verstehen und entsprechend falsch behandeln.
Autor: Shirin Scheidegger Hundetrainerin

Diese «Nachsozialisation» gelingt nicht immer und kann Jahre dauern – je nach Vorgeschichte des Hundes und pädagogischem Geschick seines Menschen. «Denn auch der muss lernen, zum Beispiel Führung so zu übernehmen, dass der ängstliche oder aggressive Hund sie auf seinen Menschen verlassen kann», sagt Alain Scheidegger.

Hunde richtig lesen

Ob Problemhund oder nicht: Ohne Erziehung geht es heute nicht mehr. Nicht nur, weil sich unsere Welt rasant verändert, sondern auch, weil «ein Hund» heute ein anderes Tier ist als noch vor 20 Jahren. Die Ansprüche, das Wissen um sein Wesen, unsere Beziehung zu ihm müssen neu überdacht werden.

Für Shirin Scheidegger ist klar: «Hunde passen sehr wohl immer noch in unsere Gesellschaft, wenn man weiss, wie. Aber wir müssen lernen, Hunde richtig zu lesen, weil wir sie sonst völlig falsch verstehen und entsprechend falsch behandeln.»

Es braucht obligatorische Kurse

Hunde umgekehrt tun dies seit jeher: Sie beobachten ihre Menschen, passen sich an, leisten willig ihre Dienste als Schutz-, Rettungs-, Blinden-, Jagd- und Hütehunde, zunehmend als Therapiehunde in Altersheimen, Schulzimmern, als Ersatzpartner, Familienmitglied, Kinderfreund.

Ganz offensichtlich brauchen wir Hunde – heute mehr denn je. Anders lassen sich der Trend und leider auch die unvernünftigen Internetkäufe wider besseres Wissen nicht erklären.

Aber es braucht eine neue Partnerschaft zwischen Mensch und seinem ältesten Haustier: Die Einführung obligatorischer Hundekurse wäre ein kleiner, aber sinnvoller Anfang in diese Richtung.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 29.12.2023, 09:03 Uhr

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