Wir sprechen von unserem «inneren Kind», stellen «narzisstische Züge» fest oder sind statt schlecht drauf gleich «depri». Der Hobbypsychologe in uns hat gerade Hochkonjunktur. Die sogenannte Therapiesprache, geformt durch Jahrzehnte psychologischer Erkenntnisse und Fortschritte, schleicht sich vom Therapiesessel in unsere Alltagssprache, in die sozialen Medien und den öffentlichen Diskurs.
Wenn man davon ausgeht, dass die Sprache unser Denken formt: Was passiert in unseren Köpfen, wenn wir nicht mehr nur aufgewühlt, sondern gleich «getriggert», wenn Situationen nicht nur unangenehm, sondern gleich «toxisch» sind?
Hinter Podcasttiteln wie «Tschüss Trigger, hallo Heilung!» oder «Befreie deine verletzte Seele» finden sich mal Fachpersonen, mal selbsternannte Mental-Health-Influencer, die über das Lösen von Traumata und das Beruhigen des Nervensystems plaudern. Auch in Büchern, Serien und in Gesprächen unter Freunden wird gerade um die Wette analysiert und diagnostiziert.
Therapeutinnen wenden sich vermehrt per Instagram oder Tiktok an die «Generation Therapie», mal mit Aufklärungsarbeit, mal mit Glückskeks-Weisheiten. Die «New York Times» nennt sie «die neuen Instagram-Dichter». Ihre Poesie: «Mehr Umarmungen, weniger Ratschläge» oder «Liebes kleines Ich, du hast so viel auf dich genommen, was du nicht hättest tragen sollen». Darunter: Aufmunterung, Aufklärung und ja, Ratschläge.
Über mentale Gesundheit sprechen
Was macht der «Therapy-Speak» mit uns? Fragt man bei Frank Jacobi nach, Professor an der Psychologischen Hochschule Berlin, spricht er von zwei Seiten einer Medaille.
«Dass mentale Gesundheit als Teil unserer Gesundheit viel mehr im Fokus ist, ist eine gute Entwicklung», sagt er. «Das hat mit Emanzipation zu tun, mit aufgeklärten Patientinnen, mit Autonomie.» Jacobi spricht von einer höheren «mental health literacy» und meint damit: Viele Menschen kennen sich mit den Grundlagen der Seele besser aus, können die Psyche besser lesen.
Es sollte weder übersensibilisiert noch überdiagnostiziert werden.
Ein Blick auf die mentale Gesundheit hierzulande: Zwei von fünf Menschen in der Schweiz geben an, psychisch belastet zu sein. Das ergibt eine Umfrage der Stiftung Pro Mente Sana von 2022 . Jede zweite IV-Rente lässt sich mittlerweile auf psychische Ursachen zurückführen. Vor allem junge Leute leiden zunehmend an psychischen Störungen. Das zeigt die Statistik des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) von 2022 .
Viele Menschen in der Schweiz sind also betroffen. Darum: über mentale Gesundheit reden? Ja bitte – aber richtig und bedacht. Hier kommen wir zur zweiten Seite der Medaille. «Es sollte weder übersensibilisiert noch überdiagnostiziert werden», sagt Jacobi.
Geht es informierten Menschen schlechter?
Wie das Wissen über psychische Probleme dazu beiträgt, dass Menschen ihre mentale Gesundheit schlechter einschätzen, zeigt eine Studie aus Australien . Nach Kampagnen, die besonders intensiv über psychische Krankheiten informierten, wurden 3000 Probanden befragt. Das Resultat: Diejenigen, die weniger über psychische Gesundheit wussten, wurden auch seltener als depressiv eingestuft.
Auch Jacobi staunt über das Ergebnis. «Es kann nicht Sinn der Sache sein, dass Aufklärung als Nebenwirkung haben kann, dass es einem danach schlechter geht. In meinem Verständnis führt Aufklärung zu Prävention.»
Nur: Führt das Wissen über psychische Beeinträchtigungen dazu, dass man mehr Symptome an sich entdeckt? Oder wissen umgekehrt Betroffene mehr über das Thema Bescheid, weil sie eben betroffen sind? Was ist Ursache, was Wirkung? Das sagt die Studie nicht.
Falsche Verwendung entwertet das Leid
Fakt ist: Psychische Störungen werden enttabuisiert, wenn wir darüber sprechen. Es kann also sinnvoll sein, sich Begriffe anzueignen, um Probleme bei sich oder anderen zu erkennen und Phänomene spezifischer benennen zu können. Viele Begriffe aus der Therapiesprache haben aber ihre Bedeutung im Kontext einer Diagnose.
Hier wird’s heikel. Durch eine falsche oder übermässige Verwendung von Begriffen, die für schwere Leiden gedacht sind, verlieren die Wörter an Prägnanz und letztlich an Bedeutung. So wird auch das Leid entwertet, das Opfer ertragen müssen.
Eine Zurückweisung ist nicht gleich ein traumatisches Ereignis
Beispiel Trauma. Vor allem Kriegsveteranen, vermutete man, waren traumatisiert. Im Ersten Weltkrieg etwa sprach man vom sogenannten Shellshock-Syndrom. Fünf Jahre nach dem Vietnamkrieg, 1980, wurde aus der Vermutung eine psychologische Tatsache: Die Posttraumatische Belastungsstörung (kurz PTBS) wurde offiziell im Diagnosekatalog psychischer Störungen aufgenommen.
Man muss aufpassen, dass man nicht normale Probleme zu psychischen Krankheiten macht.
Aber es war nicht nur der Krieg, der den Menschen traumatisierte. Naturkatastrophen, Unfälle, Missbrauch: All diese schrecklichen Ereignisse konnten starke emotionale Reaktionen auslösen, die als traumatisch eingestuft wurden. Die Psychologie weitete das Traumakonzept also aus, auf eine nachvollziehbare Art.
Doch mittlerweile wird der Begriff zunehmend ironisch verwendet – oder für Dinge, die bloss unangenehm sind. Doch eine Zurückweisung ist nicht automatisch ein traumatisches Ereignis. Ein «Arschloch» ist nicht gleich ein pathologischer Narzisst. Nicht jeder emotionale Impuls ist Anxiety. Und eine schwierige Lebensphase muss nicht gleich in eine depressive Zeit münden.
Vorsicht bei der Einschätzung
«Wenn wir gleich alles als psychische Störungen einschätzen, schiessen wir übers Ziel hinaus», sagt Jacobi. «Man muss aufpassen, dass man nicht normale Probleme zu psychischen Krankheiten macht.»
Wie hilfreich ist also dieser «Therapiesprech» für die Gesellschaft? «Psychologisch hilft es nichts, wenn man eigentlich normal im Leben Vorkommendes gleich mit psychopathologischen Begriffen belegt», sagt Jacobi.